Blinde Wahrheit
überflog ihren Einkaufszettel. »Wir haben alles, oder, Natalie?«
»Ja, Grandma. Und du hast gesagt, ich solle mit dir zur Kasse gehen, wenn wir fertig seien – damit du keine bösen Spontankäufe machen könnest«, antwortete sie mit todernster Miene.
Ezra betrachtete zuerst den Artikelberg im Einkaufswagen. Dann schaute er auf den winzigen Zettel in Miss Lucys Händen. »Das stand alles auf Ihrer Liste?«
»Oh, das sind fast alles nur Grundnahrungsmittel.«
Ezra reckte den Hals und schaute auf die ordentlich gestapelten Taschenbücher, die ganze vorn im Wagen verstaut waren. »Bücher zählen zu den Grundnahrungsmitteln?«
Sie hob eine ihrer schneeweißen Augenbrauen. »Bücher sind eines der wichtigsten Grundgüter überhaupt. Kümmere dich besser um deine eigenen Einkäufe, ich sag ja auch nichts zu dieser kleinen Schachtel da in deinem Korb.«
Ezra wurde plötzlich ganz heiß.
Doch er würde nicht rot werden. Auf gar keinen Fall durfte ihm eine achtzigjährige Frau wegen einer blöden Packung Kondome die Schamesröte ins Gesicht treiben.
Natalie schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. »Sie hat Augen wie ein Adler. Angeblich soll im Alter ja als Erstes die Sehstärke nachlassen, aber ich schwöre dir, ihre Augen werden immer besser.«
»Meine Ohren sind auch noch sehr gut«, gab Miss Lucy keck zurück und marschierte ihnen voran zur Kasse. »So, so, Lena Riddle. Ist sie vielleicht auch der Grund, warum du noch nicht zum Tee bei mir erschienen bist, Ezra?«
Nun wurde es brenzlig. Lucy konnte zwar nicht gerade als Tratschtante bezeichnet werden, aber sie bekam im Ort so einiges mit. Wenn er sie also in dem Glauben ließe, er würde mit Lena ausgehen …
Mist, verdammter! Diese Frau war so etwas wie eine Supermutti. In ihrer Gegenwart fühlte er sich wie ein Teenager, der sich nachts heimlich aus dem Haus schlich. Was er tatsächlich nur ein- oder zweimal gemacht hatte.
»Wir sind nicht zusammen oder so. Bloß Freunde«, sagte er und stieß einen Seufzer aus.
»Sie ist ein nettes Mädchen, du könntest es schlimmer treffen. Ich habe mich zwar noch nicht oft mit ihr unterhalten, aber sie scheint mir ganz sympathisch zu sein. Natalie mag sie jedenfalls.«
Natalie lächelte ihre Großmutter an. »Lena ist ein Schatz.«
Lucy begutachtete den Inhalt von Ezras Korb und schob ihn dann Richtung Kasse. »Mach schon, geh vor. Du hast ja nicht viel.« Wohlwollend zwinkerte sie ihm zu. »Und deine Anschaffungen musst du vor niemandem verstecken.«
Der Höflichkeit halber hätte er eigentlich ablehnen sollen. Doch ein Blick auf Lucys überladenen Einkaufswagen überzeugte ihn. Zum Teufel mit der Höflichkeit! Außerdem würde er so schneller verschwinden können, bevor sie ihn noch in ein Gespräch über seine Anschaffungen verwickelte.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht?«
Sie strahlte ihn an. »Sonst hätte ich es dir ja nicht angeboten, oder? Natalie, ist Lena nicht eine Zeit lang mit Remy ausgegangen?«
»Kann sein«, antwortete diese zerstreut, während sie, auf der Unterlippe kauend, ein Zeitschriftenregal absuchte.
»Wenn Sie Lena Riddle meinen, ja, die ist mit Remy ausgegangen. Fast ein Jahr lang, glaube ich«, meldete sich die Kassiererin zu Wort.
Weder Natalie noch Lucy schienen besonders überrascht darüber zu sein, während Ezra verwirrt registrierte, wie sich die fremde Frau unverfroren in ihr Gespräch einmischte. »Viele dachten, es wäre was Ernstes, doch dann haben sie sich ganz plötzlich getrennt. Ich habe nie erfahren, warum.«
Ezra runzelte die Stirn, als er den Namen des Mannes einzuordnen versuchte. Dann fiel der Groschen und er musste grinsen – Remy Jennings. Oh ja, den Typen kannte er. Es war der hübsche Anwalt, den er im Büro des Sheriffs kennengelernt hatte. Allein schon die Vorstellung, dass dieser Schönling Lena berührt hatte, widerte ihn an.
Remy Jennings, womöglich verwandt mit dem Burschen, der quer über sein Grundstück gefahren war, jenes Ereignis, das er auf sich beruhen lassen würde. Geistesabwesend und mit finsterem Gesichtsausdruck legte er seine Einkäufe aufs Band, während die Kassiererin unbekümmert weiterplapperte und ausführlich berichtete, was sie über Lena wusste.
Und das war so einiges. In Sachen Informationsbeschaffung konnte man der Frau so schnell nichts vormachen. Sie konnte sagen, wie oft Lena ihren Puck zum Tierarzt oder zum Hundefriseur brachte, wann sie nach Lexington fuhr, sogar wie häufig sie etwas in Louisville zu erledigen hatte.
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