Blinde Wahrheit
Nielson musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht in den Händen zu vergraben. An diesem Morgen war er mit Kopfschmerzen aufgewacht – ein Omen für einen beschissenen Tag. Und in den vergangenen Stunden hatte der Schmerz stetig zugenommen.
Als Prather schließlich gegen zwei Uhr ins Büro geschlendert gekommen war, hatte er das Gefühl gehabt, sein Schädel würde gleich platzen. Der Idiot war eine Beleidigung für jeden, der auch eine Uniform trug, und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer mit ihm.
Nielson atmete einmal tief durch und sah Prather ins Gesicht. »Nein, Detective King ist zwar in keine offizielle Ermittlung eingebunden, aber das wird ihn nicht daran hindern, sich ein bisschen umzusehen, wenn er das möchte, nicht wahr?«
»Er hat überhaupt keinen Grund, sich umzusehen. Es ist ja schließlich nichts passiert.«
Als hätte er Prathers Einwand nicht gehört, fuhr Nielson fort: »Auch wenn ich nicht unbedingt scharf darauf bin, dass so ein toller Hecht von State Cop in meinem Bezirk herumschnüffelt – angesichts der Tatsache, dass er ein gewisses … Interesse für Miss Riddle hegt und Sie die Frau nicht gröber hätten beleidigen können, was war da anderes zu erwarten?«
Innerhalb von nur fünf Sekunden wechselte Prathers Gesichtsfarbe von knallrot zu käsebleich und wieder zurück. »Hören Sie mal, Sheriff, wenn diese Frau behauptet, ich hätte mich unangemessen verhalten, dann lügt sie … «
»Haben Sie oder haben Sie nicht zu ihr gesagt, sie solle sich eine Pflegekraft ins Haus holen?«
Prather wurde unruhig und zuckte mit den Schultern. »Und inwiefern ist das gleich eine Beleidigung?«
Mit dem gleichen sanften Tonfall, mit dem er einem Fünfjährigen etwas zu erklären versucht hätte, antwortete Nielson: »Sie ist blind, Prather. Sie kann nicht sehen, aber sie ist nicht debil, sie ist nicht hilflos. Sie hat ein sehr herausforderndes Berufsleben, das sie ohne jede Hilfestellung meistert, sie lebt seit geraumer Zeit allein, und ich meine auch gehört zu haben, dass sie einen Hochschulabschluss in der Tasche hat – für mich klingt das nicht nach einem typischen Empfänger von Pflegeleistungen.«
Prather blinzelte schweigend.
Er schien es einfach nicht zu schnallen.
Nielson stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab und stand auf. »Sie begreifen es einfach nicht. Und ich kann es Ihnen nicht begreiflich machen, selbst wenn ich es an eine Hauswand pinseln würde. Und trotzdem glauben Sie anscheinend nach wie vor, dass Lena Riddle diejenige ist, die Hilfe braucht«, schloss er angewidert. Warum musste er sich das eigentlich antun?
10
Er kam mit der Geschichte nicht weiter, und das schon seit über einer Woche.
Das war Fakt.
Law versuchte festzustellen, ob es an der Geschichte oder an ihm selbst lag. Er hatte einfach viel zu viel um die Ohren, daran bestand kein Zweifel. Vielleicht war das alles. Zumindest hoffte Law, dass es wenigstens zum Teil damit zu tun hatte, denn er arbeitete nun bereits seit einem halben Jahr an diesem Buch. Sollte sich zu diesem Zeitpunkt herausstellen, dass die Geschichte nicht funktionierte, hatte er ein echtes Problem. Er würde nie und nimmer von vorn anfangen und trotzdem seine Deadline einhalten können.
Und Law hielt seine Abgabetermine immer ein.
Basta.
Er stieß einen Seufzer aus, starrte an die Decke und warf gedankenverloren einen alten Baseball dagegen, wieder und wieder, wobei er seine Gedanken schweifen ließ und hoffte, dass er endlich den Kern seiner Schreibblockade erfassen konnte.
Wie erwartet lag es nicht am Buch.
Er war zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen – zwei Frauen, die ihm beide viel bedeuteten. Lena, die er förmlich anbetete, und Hope, die zu seinen engsten Freunden zählte. Die Sorge um diese beiden Menschen machte ihn fast wahnsinnig.
Hope hätte eigentlich schon längst bei ihm sein sollen – sie hatte versprochen, im Laufe der Woche zu kommen, was nun bereits sechs Tage her war. Sie schindete Zeit, das wusste er, und er konnte es sogar verstehen.
Aber sie hatte ihm ihr Wort gegeben und war dennoch nicht da.
Hope brach keine Versprechen.
Wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit immer noch nicht aufgekreuzt wäre, müsste er sie anrufen, denn seine Sorge um sie würde sich nicht einfach in Luft auflösen. Hope war eine erwachsene Frau, und wenn sie beschlossen hatte, nicht zu kommen, dann konnte er daran nichts ändern. Aber … Gott bewahre … Was, wenn ihr Exmann, dieses Schwein, sie
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