Blinde Wahrheit
Sicherheit liegt mir am Herzen. So weit zu meinem privaten Interesse. Hinzu kommt allerdings, dass ich mit Leib und Seele Polizist bin. Ob nun beurlaubt oder nicht, das ändert nichts. Und es regt mich unglaublich auf, dass nur wenige Kilometer von meinem Haus entfernt möglicherweise etwas ganz Schlimmes vor sich geht und die einzige Zeugin – und das ist nun mal Lena Riddle – abgewiesen wird, weil sie blind ist.«
»Lena Riddles Handicap tut nichts zur Sache«, blaffte Nielson.
Ezra kaufte es ihm ab. Der Mann schien ein fairer, ausgeglichener Typ zu sein, der alle Seiten unter die Lupe nahm, bevor er ein Urteil fällte. »Freut mich zu hören. Und dennoch lassen Sie es zu, dass mindestens einer Ihrer Deputys sie allein wegen dieses Umstands wieder wegschickt. Das können Sie nicht abstreiten. Der Mistkerl hat angedeutet, dass sie eine Pflegekraft für die Nacht brauche – und schlimmer noch, es ist nicht nur bei der Anspielung geblieben, er hat es ausgesprochen, verdammt noch mal! Sie sitzt nicht im Rollstuhl, sondern ist nur blind. Ihr Deputy dagegen scheint offensichtlich ziemlich gehirnamputiert zu sein, und trotzdem läuft er noch ohne Pflegekraft durch die Gegend.«
Ein Anflug von Belustigung blitzte in Nielsons Augen auf, verschwand aber sofort wieder. Ganz sicher war sich Ezra jedoch nicht.
»Hören Sie, Detective King, ich verstehe Sie ja. Wirklich. Und ich habe nicht vor, diese Angelegenheit einfach so zu den Akten zu legen.« Er seufzte, lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand über den Schädel – anscheinend eine Übersprungshandlung. »Aber wir müssen der schlichten Tatsache ins Auge sehen, dass wir kein Opfer haben. Miss Riddle hat Schreie gehört. Wenn wir jemand Geschädigten hätten, eine Leiche, wenn es irgendeinen Hinweis auf ein Verbrechen gäbe … irgendetwas … würde es uns das weitere Vorgehen sehr erleichtern.«
Er blickte Ezra in die Augen und streckte ihm die flachen, leeren Handflächen entgegen. »Aber bisher haben wir nichts, rein gar nichts. Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun, wenn es nichts gibt, womit wir arbeiten können?«
»Glauben Sie ihr?«, fragte Ezra.
Der Sheriff wollte darauf keine Antwort geben, das konnte Ezra an seinem Blick erkennen. Aus irgendeinem seltsamen Grund vermied er es, eine klare Aussage zu treffen.
Ezra beugte sich vor und hakte nach: »Ist so etwas schon einmal vorgekommen? Hat sie jemals Ärger gemacht? Hat sie Ihnen je einen Grund gegeben, an ihrem Wort zu zweifeln?« Eindringlich musterte er Nielsons Gesicht, kannte die Antwort aber eigentlich bereits. Lena war keine Querulantin. Und auch keine Nervensäge.
Nielson hielt Ezras Blick stand. »Nein. Aber das hätten Sie wahrscheinlich auch auf anderem Wege herausgefunden. Und nur deswegen werde ich es Ihnen sagen, Detective.«
»Verstanden.« Zerstreut massierte Ezra sein Bein und starrte aus dem Fenster, das den Blick auf eine ruhige, friedlich wirkende Stadt freigab. Er konnte durchaus nachvollziehen, warum Nielson diesen Zustand unbedingt beibehalten wollte.
»Sie ist auch nicht der Schlag Mensch, der sich so etwas einbildet«, fügte Ezra hinzu und musste daran denken, wie sie mit ihm und Law zwischen den Bäumen herumgelaufen war – souverän, festen Schrittes, eine gelassene, selbstsichere Frau durch und durch. Sie würde sich so etwas nicht herbeifantasieren. »Wenn diese Frau behauptet, dass jemand geschrien hat, dann stimmt das auch. Das sagt mir mein Bauchgefühl.«
Nielson kratzte sich am Kinn. »Wie ich bereits sagte, das Problem liegt darin, dass wir keine Menschenseele gefunden haben, von der diese Schreie stammen könnten.«
Dann habt ihr nicht genau genug hingeschaut , dachte Ezra, sprach es aber nicht laut aus.
»Außerdem haben wir es bisher mit einem Einzelfall zu tun. Bevor nicht noch etwas passiert, sind uns die Hände gebunden. Aber … ich werde die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ich werde meine Männer immer wieder einmal in das Waldstück schicken, aus dem die Schreie gekommen sein sollen. Sie werden stichprobenartig dort vorbeifahren. Wenn dort also wortwörtlich irgendetwas im Busch ist, werden wir es früher oder später merken.«
Verflucht!
Das war nicht viel, aber, wie Ezra zugeben musste, besser als gar nichts.
Als er Nielsons Büro wieder verließ, warf ihm der grünäugige, behelmte Drachen einen wütenden Blick zu. »Das nächste Mal, wenn Sie mit dem Sheriff sprechen wollen, vereinbaren Sie vorher bitte einen
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