Blinder Einsatz
Gelkapsel. Sollte er sie wirklich nehmen? Der Arzt hatte ihm doch erklärt, wie wichtig es sei, sich an die Vorgaben der Testreihe zu halten: Im Augenblick sollte er nur weiter sein Tagebuch führen. Er stopfte die Kapsel in die Gesäßtasche und ging zu seiner Mutter hinunter.
»Dein Vater hat gerade angerufen. Er kommt etwas später. Wir können ja schon mal einen Schluck trinken. Was meinst du?«
Lars half seiner Mutter, Gläser und ein paar Snacks auf den Couchtisch zu stellen. Er zitterte noch immer, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
Nachdem sie einen Schluck genommen hatten, wurde seine Mutter auf einmal ganz ernst.
»Lars, ich möchte dich was fragen. Hast du unsere EC-Karte benutzt?«
»Wie bitte?«, antwortete er schroff.
»Unser Bankberater hat seit einiger Zeit ungewöhnliche Kontobewegungen registriert, die er sich nicht erklären kann.«
»Und du denkst, das sei ich gewesen?«
Ihm wurde immer heißer. Er wischte sich wiederholt mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Schließlich zog seine Jacke aus.
»Nein, aber der Berater meinte, dass nach seiner Erfahrung häufig jemand aus der Familie hinter solchen Transaktionen steckt. Deshalb habe ich jetzt dich gefragt.«
»Also denkst du, dass ich es gewesen bin. Irgend so ein Bankheini faselt was von Familie, und sofort denkst du: ›Ach, das war bestimmt Lars!‹«
Der junge Mann verlor die Fassung, ständig griff er nervös nach seinem Glas, hob es, stellte es wieder ab.
»Reg dich nicht so auf, ich habe doch nur gefragt. Wenn du es nicht gewesen bist, umso besser. Aber du musst mich auch verstehen, es handelt sich um eine beträchtliche Summe. Und da wir beschlossen haben, dir, außer bei der Miete, finanziell nicht unter die Arme zu greifen, habe ich gedacht …«
»Dass ich es nicht schaffe, mir einen Job zu suchen, und mich stattdessen an eurem Konto vergreife! Dass die Bank das vielleicht nur gesagt hat, weil sie selbst irgendwelchen Mist gebaut hat, so was kommt dir nicht in den Sinn?«
»Doch. Äh, nein. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Es war doch bloß eine Frage!«
Lars stand auf und begann, wie wild im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. Seine Stimme wurde immer erregter. Er schlug mit der Faust gegen Möbel, konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
»Deshalb hast du mich also eingeladen. Um mich ins Verhör zu nehmen!«
»Nein.«
»Ja, aber sicher! Und Papa kommt bestimmt absichtlich später, weil er glaubt, du kriegst leichter ein Geständnis von mir.«
»Jetzt komm mal wieder auf den Teppich! Es handelt sich hier nicht um ein Verhör.«
»Na, aber es ist schon nah dran. Und Papa, den fragst du nicht, oder?«
»Lars …«
»Lars, Lars! Von seiner eigenen Mutter verdächtigt werden!«
Saskia stand auf. Sie wollte sich bei ihrem Sohn entschuldigen, denn sie merkte, wie sehr sie ihn gekränkt hatte. Doch der tickte völlig aus, gestikulierte wild herum und hörte überhaupt nicht mehr zu schreien auf. Sie wollte ihn beruhigen, ihm die Hand auf den Nacken legen und über sein Haar streichen – wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Doch bei der Berührung reagierte Lars vollkommen unerwartet. Abrupt drehte er sich um und versetzte ihr einen Hieb mit der Handkante. Er traf sie an der Schläfe, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Mit voller Wucht schlug sie auf den Marmorboden.
»Mama! Oh, nein! Mama!«
Entgeistert starrte Lars auf seine Mutter herab. Sie lag mit dem Gesicht auf den Fliesen. Völlig überfordert von der Situation griff er sofort zum Telefon, um den Notarzt zu rufen. Doch bevor er die Nummer wählen konnte, kam ihm ein entsetzlicher Gedanke: Vielleicht hatte er seine Mutter getötet. Er legte den Hörer wieder auf und lief nervös auf und ab. Sein körperlicher Zustand verhinderte jeden klaren Gedanken. Das Zittern hatte sich verstärkt. Er traute sich nicht, seine Mutter umzudrehen, ja nicht einmal, sich ihr zu nähern. Als es auf einmal klingelte, entfuhr ihm vor Schreck ein Schrei. Es war nur der Küchenwecker. Doch dadurch wurde ihm das Prekäre seiner Lage bewusst: Schon bald würde sein Vater nach Hause kommen. Lars fand die Aspectil-Kapsel in seiner Hosentasche. Den strikten Auflagen des Medikamententests zum Trotz füllte er ein Glas Wasser und spülte sie hinunter. Das würde ihn hoffentlich beruhigen.
Zehn Minuten stand er reglos in der Küche, die Hände auf der Spüle abgestützt. Mit geschlossenen Augen lauschte er seinem Atem und seinem Herzschlag.
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