Blinder Einsatz
näselnde Stimme meldete sich, ganz anders als die, die sie erwartet hatte:
»Wir haben deine Mails mit Will abgefangen. Du weißt gar nichts über die Notizen, die du eingescannt und ihm geschickt hast. Wenn du zur Polizei gehst, machen wir dich auch fertig. Wir beobachten dich auf Schritt und Tritt. Wenn du deinen Freund lebend wiedersehen willst …«
»Wo ist Hugh?«
Doch da war nur noch das Freizeichen. Aufgelegt. Constance rief sofort zurück, erreichte aber nur die Mailbox.
Sie war gar nicht in der Lage, die Situation zu erfassen. Ihre Hände zitterten, sie fühlte sich am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Es war wie ein Alptraum. Starr blickte sie auf das Display ihres Handys, in der Hoffnung, dort noch einmal Hughs Namen erscheinen zu sehen. Im Fernsehen lief immer noch die Sondersendung über das Massaker auf dem Campus von Nanterre: Politiker und Studenten kamen zu Wort, alle verliehen ihrem Entsetzen Ausdruck. Constance konnte das nicht mehr hören, es machte alles nur noch schlimmer.
Unter dem erstaunten Blick ihres Chefs ging sie raschen Schrittes in ihr Büro und schnappte sich ihre Handtasche und ihren Laptop.
»Warten Sie mal, Constance! Was ist mit Ihnen?«
Constance machte nur eine abwehrende Handbewegung, mit der sie sich zugleich verabschiedete.
»Und was ist mit unserer Besprech …«
Ihr Chef brachte seinen Einwand nicht zu Ende. Constance war bereits hinausgestürmt. Er hätte ihr nachlaufen können, doch er spürte, dass sie sich nicht bloß aus einer Laune heraus so verhielt. Irgendetwas Schwerwiegendes musste passiert sein.
Das Foto von Will ging Constance nicht aus dem Kopf. Tot, ermordet. Die Nachrichtensprecherin hatte es oft genug wiederholt. Und nun verfolgte sie diese Geschichte regelrecht, überall auf ihrem Weg durch die Stadt drangen Gesprächsfetzen an ihr Ohr, die sich darum drehten. Schießerei, Massaker, Nanterre … Sie konnte kaum noch unterscheiden, ob sie das wirklich hörte oder ob es nur Stimmen in ihrem Kopf waren. Ein einziger Albtraum. Auf allen Bildschirmen, die sie durch die Scheiben der Cafés sah, lief die Sondersendung, konfrontierte sie unablässig mit der schmerzlichen Tatsache von Wills Tod. Und Hugh, was war mit Hugh, lebte er überhaupt noch? Würde bald auch sein Foto über die Bildschirme flackern? Womöglich war er ja nach Nanterre gefahren. Erst jetzt fing sie richtig an zu begreifen, dass die Anrufer Hughs Handy benutzt hatten. Will war tot, daran gab es keinen Zweifel. Was Hugh betraf, war das dagegen noch lange nicht klar, sie hatte nur in ihrer Fantasie bereits das Schlimmste vorweggenommen. Die Stimme des Unbekannten hatte jedenfalls behauptet, dass Hugh noch am Leben sei.
Was nun? Die Polizei einzuschalten schien ihr zu gefährlich. Ob sie wirklich beobachtet wurde? Sie sah niemanden, der ihr folgte, aber vielleicht gingen ihre Verfolger nur geschickt vor. Offenbar hatte sie über die Notizen von Hugh Informationen in die Hände bekommen, die für jemanden von großer Bedeutung waren. Will hatte ihr geholfen, sie zu entschlüsseln, und dafür mit seinem Leben gebüßt. Hugh hatte sicher ebenfalls versucht, mehr herauszubekommen. Wo war die Verbindung? Dieses Blatt musste Informationen enthalten, die so belastend waren, dass jemand nicht nur Will, sondern auch gänzlich unbeteiligte Studenten getötet hatte.
Constance hatte große Angst, Hugh nie mehr wiederzusehen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Drohungen erhielt. In ihrem Job war sie an so etwas gewöhnt. Vor ihrem ersten Auslandseinsatz hatte man ihr gesagt, dass man nicht zu viel auf solche Einschüchterungsversuche geben sollte, hinter denen häufig gar nichts steckte. Wenn sie allerdings konkreter wurden, hieß es, konsequent zu handeln. Der Tod von Will zeigte, dass dies keine leeren Drohungen waren. Doch im Augenblick wusste sie nicht, ob sie das Leben von Hugh in Gefahr brachte, wenn sie mehr herauszufinden versuchte.
Seit sie das Büro der Firma verlassen hatte, fühlte sich Constance nicht mehr sicher. Sie hatte den Eindruck, dass ihr jemand folgte, und blickte ständig über die Schulter. Sie wusste nicht mehr aus noch ein. Will, Hugh, die fremde Stimme, die Drohungen. Alles wirbelte in ihrem Kopf durcheinander. Sie wagte nicht, nach Hause zurückzugehen, aber sie wollte auch nicht die Freundin, bei der sie seit einigen Wochen wohnte, mit in die Sache hineinziehen. Sie fühlte sich sehr allein.
Ziellos lief sie umher. Ob ihr wirklich jemand folgte, konnte sie nicht
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