Blinder Einsatz
versagten mir, ich begann am ganzen Leib zu zittern, mir blieb die Luft weg. Dann lief ich in die erstbeste Bar, rief meinen Vater an und sagte ihm, dass ich mit dem nächsten Flugzeug nach Hause fliegen würde. Doch mein Vater schnitt mir mit ernster und trauriger Stimme das Wort ab. Nie werde ich seine Worte vergessen:
»Ich verstehe deine Reaktion. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, nach Hause zurückzukehren. Du hast dir etwas vorgenommen, führe es zu Ende. Vor dir liegt das Leben, hinter dir nur der Tod.«
Ich habe lange geweint, doch ich spürte, dass er recht hatte. Dennoch fuhr ich zum Flughafen und wäre auch beinahe nach Hause geflogen. Doch seine kraftvollen, gebieterischen Worte behielten die Oberhand. Ich hoffte nur, dass mein Vater bei meinem Bruder genügend Trost und Unterstützung finden würde. In meinem Herzen war meine Mutter noch lange nicht gestorben.
Mein Vater hatte mir eine gewaltige Aufgabe übertragen: dafür zu sorgen, dass meine Eltern stolz auf mich waren. Ihr Vertrauen in mich war eine große Ehre und erfüllte mich mit Hoffnung. Doch bald spürte ich auch, wie es mich belastete. Ich musste etwas aus meinem Leben machen. Mein Vater hatte zu den führenden philosophischen Köpfen Deutschlands gehört, und in meiner Jugend wurde ich oft beglückwünscht, sein Sohn zu sein. Ich wusste, dass es nicht leicht sein würde, ihn stolz zu machen. Heute kann ich eingestehen, dass mir die Aufgabe damals Angst einjagte. Wenn ich zurückdenke, entdecke ich ganz tief in meinem Innern eine Unruhe, der ich beinahe erlegen wäre. Die Lebensfreude und die Neugier, die der Aufenthalt in Valparaíso in mir geweckt hatten, wurden von Unsicherheit und Selbstzweifeln verschüttet. Also beschloss ich, Valparaíso, das für mich ohnehin immer mit diesem schmerzlichen Verlust verbunden ist, hinter mir zu lassen. Ich war dort nicht zu Hause, ich schuldete der Stadt nichts. Nun hatte ich zum ersten Mal erfahren, wie hart das Leben sein konnte und wie wichtig es war, es wirklich kennenzulernen. Wieder war ich einige Wochen ziellos unterwegs …
4
Das Spiel ist ein Ringen mit dem Schicksal.
Anatole France, Der Garten des Epikur
Paris, 5. und 6. Juli
Constance betrachtete verwundert die vollgekritzelte Seite von Hughs Notizheft. Sie wusste sich keinen Reim darauf zu machen. Vor allem der letzte Satz beschäftigte sie: »Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wo du bist.« Ob Hugh in Schwierigkeiten steckte? Dass er sein Moleskin-Notizbuch nicht mitgenommen hatte, war seltsam. Er benutzte es sonst ständig. Und er fing nie ein neues an, wenn das alte noch nicht voll war. Fieberhaft kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy und rief Will an. Aber es gelang ihr nicht, ihm klarzumachen, was genau sie beunruhigte.
»Nun mal langsam, Constance, kannst du die Seite vielleicht einscannen und mir per Mail schicken? Vielleicht werde ich ja schlau daraus. Im Augenblick sehe ich keinen Grund, warum du dir Sorgen machen müsstest.«
Constance wusste nicht, was sie machen sollte. Sie suchte weiter in Hughs Wohnung. Die Situation ging ihr unablässig im Kopf herum – vergeblich versuchte sie, eine schlüssige Erklärung zu finden. Stunden waren vergangen, als sie das Klingeln des Handys aus ihren Gedanken riss.
»Constance, hier ist Will. Ich konnte ein paar Dinge recherchieren.«
»Und?«
»Ein paar Sachen habe ich herausgefunden, aber ich kann noch nicht sagen, was sie wirklich bedeuten. Also erst einmal die Vornamen. Sie haben etwas gemeinsam, es sind Namen von gewissen Spielkartenfiguren auf sogenannten ›französischen Karten‹, wie sie überall auf der Welt benutzt werden. Und sie werden hier offenbar von Pokerspielern als Nicknames verwendet. Vielleicht hat Hugh ihnen beim Spielen zugesehen oder gegen sie gespielt.«
»Nicknames, sagst du?«
»Ja, wieso?«
»Als wir uns gestritten haben, hat Hugh dauernd von einer gewissen Judith geredet. Ich weiß aber nicht, ob er gegen sie gespielt hat.«
»Auf jeden Fall fand er es so interessant, dass er sich Notizen gemacht hat. Die Namen gehören zu Spielern, die ich im Internet finden konnte. Diese Judith hat einige Zehntausend Dollar verloren. In dem Online-Casino, in dem sie spielt, war sie im letzten Monat so ziemlich die größte Verliererin. Der Ablauf der Spiele kommt mir allerdings seltsam vor. Man hat wirklich den Eindruck, dass diese Judith nichts vom Pokern versteht. Ich habe ein paar der Spiele in ein Pokerforum eingestellt, um mal zu
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