Blinder Einsatz
die Annonce aus. Ihr neuer Bekannter las sie aufmerksam durch, ohne eine Frage zu stellen.
»Judith hat den Geburtstag ihres Königs nicht vergessen. Komm mit dem doppelten König zum Fluss, dann bringe ich übermorgen Herz Fünf und Sechs», murmelte er vor sich hin. »Mehr als diesen Satz haben Sie nicht?«
»Nein. Das Einzige, was ich sonst noch herausgefunden habe, ist, dass Judith der Name der Herzdame in manchen Kartenspielen ist.«
»Hm, schwierig. Was mich ein wenig stutzig macht, ist der ›doppelte König‹. Das sagt man eigentlich nicht. Zwei Könige oder ein Königspärchen, das könnte ich verstehen, aber das … Warten Sie mal.«
Er zog ein iPhone aus der Tasche, ging ins Internet und gab den Ausdruck in Google ein.
»Ambiorix«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Das ist eine historische Persönlichkeit, der König des gallischen Volks der Eburonen zur Zeit Cäsars, der auch den Titel ›Doppelter König‹ trug.«
Er zeigte ihr den Artikel in Wikipedia. Seltsam. Langsam scrollte er den Text hinunter, bis sie bei der Rubrik »Anekdoten« ankamen.
»Ambiorix ist der Namensgeber einer beliebten belgischen Biermarke. Ein Museum und ein Wanderpfad sind nach ihm benannt, ebenso wie ein Platz in Brüssel, ganz in der Nähe des Europaviertels. Diese Anzeige sieht wie eine Verabredung aus. ›Komm mit dem doppelten König zum Fluss‹ – als ›Fluss‹, also als ›River‹, bezeichnet man beim Poker in mehreren Spielvarianten die letzte Karte, die aufgedeckt wird. Vielleicht soll das ja heißen, dass jemand als Erkennungszeichen ein Bier der Marke Ambiorix in der Hand halten soll.«
»Und über den Ort steht gar nichts da? Es ist doch von einem Geburtstag und einem Geschenk die Rede, also muss es auch einen Treffpunkt geben.«
»Tja, das könnte der Square Ambiorix sein. Mal schauen.«
Er zog erneut sein iPhone zu Rate.
»Auf dem Platz gibt es einen Brunnen. Das ist zwar kein Fluss, hat aber auch mit Wasser zu tun. ›Herz Fünf und Sechs‹. Vielleicht das Geschenk. Trotzdem merkwürdig, das Geschenk zu verraten, wenn auch chiffriert.«
»Vielleicht handelt es sich um die Uhrzeit?«
»Auch möglich.«
Eine halbe Stunde später verabschiedete sich Constance dankend. Der Typ versuchte zwar noch einmal direkter, sie anzubaggern, aber sie schmetterte seine Bemühungen souverän ab.
Als sie das Casino verließ, war es schon dunkel. Mit den neuen Informationen, die ihr im Kopf herumwirbelten, kehrte sie in ihr Hotel zurück. Je mehr sie darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihr die Sache. Aber war es nicht ein bisschen verrückt, deswegen nach Brüssel zu fahren? Sie wusste gar nicht, was sie dort eigentlich erwartete. Trotzdem schaute sie nach den Zugverbindungen, kaum dass sie in ihrem Zimmer angekommen war. Und sie entschloss sich, einen Zug am nächsten Nachmittag zu nehmen und der Sache nachzugehen, auch wenn sie große Zweifel hatte, dass etwas dabei herauskommen würde. Aber was riskierte sie schon? Schlimmstenfalls eine überflüssige Reise. Und vor Ende der nächsten Woche musste sie sowieso nicht arbeiten. Die beiden ersten Hotels, in denen sie anrief, waren ausgebucht, es fanden gerade zahlreiche Konferenzen und Tagungen der Europäischen Kommission statt, die unweit des Square Ambiorix ihren Sitz hat. Schließlich fand sie aber doch noch ein Zimmer in der Nähe des Platzes. Womöglich war das ihre einzige Chance, Hugh wiederzufinden und Licht in diese rätselhafte Geschichte zu bringen.
5
Der Scherz ist ein Spiel,
und ein Grundzug des Spiels
ist die Gleichheit.
Honoré de Balzac, Modeste Mignon
Nassau, Bahamas, 2. Juli
Philippe hatte trotz seiner Müdigkeit nicht einschlafen können. 300 000 Dollar! Doch als er noch einmal seine Mails abrief, fand er keine Antwort.
Er ging noch einmal die Informationen durch, die er von Noah bekommen hatte. Alles deutete auf den ganz großen Coup hin.
In jedem Geschäft kommt man irgendwann einmal an einen Punkt, der über das Alltägliche hinausgeht. Nicht bloß eine ungewöhnliche Situation, sondern eine Gelegenheit, die ein Engagement verlangt, mit dem man über seine bisherigen Grenzen geht. Das bringt Stress, aber zugleich auch das Gefühl von Erfolg und eine Steigerung des Selbstwertgefühls. Und Philippe wollte diesen Augenblick auskosten, er wollte spüren, dass er etwas erreicht hatte. Er blieb im Internet, klickte sich von Seite zu Seite und suchte nach einer Bestätigung, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
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