Blinder Hass
sein Essen zu einer der niedrigen Nischen an der Wand gegenüber der Essenstheke.
Etwa eine Minute, nachdem er sich hingesetzt hatte, kam die Schwester des Sheriffs herein, blinzelte in das gedämpfte Licht, begrüßte die Frau hinter der Theke, bestellte einen Salat und Kaffee, entdeckte Virgil in der Nische und nickte ihm zu. Er nickte zurück, und kurz darauf kam sie mit ihrem Tablett herüber und setzte sich ihm gegenüber.
»Werden Sie Jimmys Job retten?«, fragte sie.
Sie sah nicht perfekt aus - ihre Augenbrauen waren vielleicht ein bisschen zu tief gerutscht, und ihr Mund mochte einige Millimeter zu breit sein -, aber sie sah sehr gut aus, und das wusste sie offenbar auch. Sie lächelte zwar, als sie ihre Frage stellte, doch ihre grünen Augen waren ernst.
»Muss der denn gerettet werden?«, fragte Virgil.
»Kann schon sein«, erwiderte sie. »Ich heiße übrigens Joan Carson. Jimmy hat erzählt, Sie hätten ein paar nette Dinge über meinen Hintern gesagt.«
»Jetzt ist Jimmys Job noch schwieriger geworden«, sagte Virgil, doch sie lächelte immer noch, und das war nicht schlecht. »Aber erzählen Sie mir doch von seinen Jobproblemen.«
Sie zuckte mit den Schultern und machte sich über ihren Salat her. »Das ist seine zweite Amtszeit. Für die meisten Sheriffs ist die zweite Wiederwahl eine Hürde. So ist das halt, nehm ich an. Bis dahin hat man genug Leute verärgert, die einen loswerden wollen, falls sie nicht trotzdem so zufrieden sind, dass sie sich verpflichtet fühlen, für einen zu stimmen.«
»Die Leute sind also nicht zufrieden?«
»Sie waren es bis zu den Morden«, sagte sie. »Jimmy führt sein Amt gut, und er ist fair zu seinen Deputys. Nun hat er diese Morde am Hals, und er findet den Täter nicht.«
»Hat er Ihnen das erzählt?«, fragte Virgil.
»Das ist allgemein bekannt«, sagte sie, nahm einen rohen Zwiebelring aus ihrem Salat, biss die Hälfte ab und zeigte mit dem halbmondförmigen Rest auf Virgil. »Hier kennt jeder jeden, und die Deputys plaudern. Niemand hat eine Ahnung, wer die Schüsse abgegeben hat.«
»Was glauben Sie denn, wer’s getan hat?«
»Es ist mir ein absolutes Rätsel«, sagte sie. »Ich kenne in dieser Stadt jeden, und bei den meisten weiß ich auch, wie sie zu wem stehen, und ich kann mir nicht vorstellen, wer so etwas tun sollte. Es fällt mir einfach niemand ein. Außer vielleicht …« Sie hielt inne.
»Außer vielleicht …«
Sie verstrubbelte ihre Haare, wie Frauen das manchmal tun, wenn sie glauben, dass sie dabei sind, etwas Törichtes zu sagen. »Das ist jetzt wirklich unfair von mir. Todd Williamson, der Zeitungsredakteur, der ist erst seit drei oder vier Jahren hier, deshalb kenne ich ihn weniger gut als andere Leute. Also vielleicht hatte er schon, bevor er hierherkam, irgendeine Macke, von der wir nichts wissen, weil wir nicht mit ihm zusammen aufgewachsen sind.«
»Das ist alles?«, fragte Virgil.
»Das ist alles«, sagte sie.
»Das ist nichts«, sagte Virgil.
»Deshalb hab ich ja auch gesagt, dass es unfair ist. Aber ich liege oft nachts im Bett und gehe jeden in der Stadt durch, der älter als zehn Jahre ist, und überlege mir, wer das getan haben könnte. Vielleicht …«
»Was?«
»Könnten wir womöglich einen verrückten kleinen Killer auf der Highschool haben, der nur wegen des Kicks getötet hat? Einer, der wissen wollte, wie es ist, jemanden zu töten, und sich aus irgendeinem Grund die Gleasons ausgesucht hat? So was liest man doch immer mal wieder.«
»Ich hoffe, dass es so ist«, sagte Virgil. »Denn dann krieg ich ihn. Er hat bestimmt seinen Freunden davon erzählt, und die werden ihn verpfeifen.«
Virgils Handy klingelte. Er nahm es aus der Tasche, und sie sagte: »Ich hasse es, wenn das beim Essen passiert«, und Virgil sagte nur: »Yeah.« Der Anruf kam aus dem County. Er klappte das Telefon auf und sagte: »Hallo?«
»Virgil, Jim Stryker hier. Wusstest du, dass Bill Judd vor fünfzehn Jahren einen Bypass bekommen hat und außerdem mal an den Lendenwirbeln operiert worden ist?«
»Tatsächlich?«
»Mein Mädel von der Spurensicherung hat im Keller von Judds Haus ein Stück gebogenen Edelstahldrahts gefunden und schwört, dass man das damals benutzt hat, um sein Brustbein nach der Bypass-Operation wieder zusammenzubinden. Und etwas davon entfernt hat sie ein paar Titanschrauben und einen Stahlstab gefunden, wovon sie behauptet, dass es aus Judds Wirbelsäule stammt. Sie meint, dass es im Krankenhaus noch
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