Blinder Hass
später aus dem Haus gelaufen. Die Frage ist … wo war er, als das Auto von der Zufahrtsstraße abkam? Nachdem es einmal von der Straße abgekommen war und die Furche im Hang hinabfuhr, musste es beinahe zwangsläufig hinunterstürzen. Wollte die Frau Selbstmord begehen? Warum hat sie nicht abgebremst?«
»Oder war sie bereits bewusstlos, als das Auto losfuhr?«, fragte Virgil. »Hat jemand anders das Auto von der Zufahrt weggelenkt?«
Johnstone nickte. »Das wäre durchaus denkbar. Jemand hätte das Auto bis zu dieser Furche fahren, ihm dann einen Stoß geben und seitlich über den Hügel zurücklaufen können - es war schließlich dunkel. Dann den Hügel hinauf und ins Haus und wieder raus …«
»Wurden damals solche Vermutungen geäußert?«, fragte Virgil.
Johnstone schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Gab es Ermittlungen?«
Rasches Nicken.
»Roman Schmidt«, sagte Virgil.
»Ja.«
»Jerry, da haben Sie aber echt Mist gebaut«, sagte Virgil, lehnte sich im Schaukelstuhl zurück und schaukelte mehrmals vor und zurück. »Gott steh Ihnen bei, wenn in den nächsten Tagen noch jemand getötet wird, bevor ich den Fall geklärt habe.« Er schaukelte noch ein bisschen, dann erinnerte er sich an etwas. »Sie haben vorhin gesagt, Ihnen sei damals etwas aufgefallen.«
»Ja.« Johnstone kratzte sich mit beiden Händen am Kopf, dann sagte er: »Ich wollte Ihnen das alles deshalb nicht erzählen, weil ich im Grunde gar nichts weiß. Doch ich kann mich erinnern, dass ich damals die Leiche der jungen Frau bei uns auf dem Tisch liegen sah, schwer verletzt von dem Unfall und dann auch noch im Krankenhaus aufgeschnitten. Da hab ich mich gefragt: Wo hat sie nur diese Blutergüsse her? Einige davon waren frisch, aber auf jeden Fall älter als fünfzehn Minuten. Sie konnten sich nicht zwischen dem Moment, als sie den Buffalo Jump hinunterstürzte, und ihrem Tod entwickelt haben. Sie waren Stunden alt. Doch der Arzt sagte, sie wäre bei dem Unfall ums Leben gekommen. Der Sheriff …«
»Was ist mit dem Wunderbaby geschehen?«, fragte Virgil.
»Wurde adoptiert«, sagte Johnstone. »Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber es wurde adoptiert. Ein Junge.«
Virgil ließ die Johnstones verängstigt zurück. »Sie bleiben hier. Sie sind zwar in Gefahr, aber wenn Shrake und Jenkins einen ganzen Tag gebraucht haben, um Sie aufzuspüren, glaube ich nicht, dass der Mörder Sie findet. Wenn Sie jedoch zu dem Schluss kommen, dass Sie hier nicht bleiben wollen, wenn es Ihnen irgendwann unheimlich wird, gehen Sie in ein Motel. Sie müssen nicht weit weg, um unterzutauchen. Wenn Sie sich dazu entschließen, sagen Sie mir auf jeden Fall Bescheid. Ich gebe Ihnen meine Handynummer …«
Im Auto ging er die Namensdatei in seinem Computer durch und rief Dr. Joe Klein an.
»Da ist ja dieser verdammte Flowers«, sagte Klein anstelle einer Begrüßung. »Was wollen Sie?«
»Hatten Sie vor auszugehen?«
»Nein. Ich lese Proust, jeden Abend fünfzig Seiten, den ganzen Sommer lang«, sagte Klein. »Ich hab schon zweiundvierzig Seiten von meinem heutigen Pensum.«
»Scheint ja eine spannende Lektüre zu sein, wenn Sie sich ein Pensum setzen«, erwiderte Virgil. »Auf die Tour hab ich mal ein Chemiebuch gelesen.«
»Nett, mit Ihnen zu plaudern, Virgil«, sagte Klein.
»Wollte nur freundlich sein«, sagte Virgil. »Wie geht’s Ihrer Frau?«
»Was wollen Sie?«
»Ich würde gern bei Ihnen vorbeikommen und Sie bitten, sich ein Foto anzusehen«, sagte Virgil.
»Kann ich das abrechnen?«
»Verdammt, das weiß ich nicht. Ich fürchte nein.«
Klein war der Gerichtsmediziner für das Hennepin County. Er beschrieb Virgil den Weg zu seinem Haus in Edina, was von Apple Valley aus gesehen im Nordwesten der Stadt lag. Zwanzig Minuten später stand Virgil vor der Haustür.
Kleins Frau Kate begrüßte ihn an der Tür. Sie war groß und dünn, hatte eine spitze Nase und eine Brille mit Goldrand. »Nun nehmen Sie mich schon in den Arm, Sie großer Blödmann«, sagte sie.
Das tat er, und sie fühlte sich irgendwie gut an …
»Das reicht«, sagte Klein. »Wo ist das Foto?«
Sie gingen in sein Arbeitszimmer. Kate, die Kinderärztin war, blickte ihnen über die Schulter, während Klein das Foto mit einem Vergrößerungsglas betrachtete. Klein druckste ein wenig herum, bis seine Frau schließlich sagte: »Mein Gott, Joseph, du bist doch hier nicht im Gericht. Spuck’s aus.«
Klein tippte auf das Foto, genauer gesagt auf den Brustkorb der Frau.
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