Blinder Hunger: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
Sie wissen genauso gut wie ich, dass Straftäter sehr gern auf die Tränendrüse drücken. Manche sind geradezu Spezialisten auf dem Gebiet.«
»Ich meinte nicht, dass er mir leidtut. Ich meinte, dass er als Vampir viel zu jämmerlich ist, um so eine Tat zu begehen.«
Zerbrowski sah mich stirnrunzelnd an. »Ich komme nicht ganz mit.«
Ich wusste nicht genau, wie ich es erklären sollte, aber ich versuchte es. »Sie haben ihm eingeredet, er könne alles geradebiegen, was in seinem Leben schiefgelaufen ist, und dann haben sie ihn getötet. Das ist schlimm genug. Aber anschließend haben sie außerdem noch alles getan, um ihn als Vampir lahmzulegen.«
»Lahmlegen? Wie?«
»Jeder Vampir, den ich kenne, hätte zur Tatzeit auf dem Parkplatz etwas bemerkt, Zerbrowski. Sie haben schärfere Sinne als jedes Raubtier. Benchely hat zwar Reißzähne, aber er denkt wie ein Schaf, nicht wie ein Wolf.«
»Möchten Sie wirklich, dass jedes Mitglied dieser Kirche ein Raubtier ist?«
Ich lehnte mich gegen das Geländer. »Darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie ihm sein altes Leben genommen und kein neues gegeben haben. Er ist nicht besser dran als vorher.«
»Er wird nicht mehr wegen Trunkenheit und ungebührlichem Benehmen verhaftet.«
»Und wie lange wird es dauern, bis er es nicht mehr aushält, seinen Vampirblick einsetzt und es komplett vergeigt? Die Frau wird zu sich kommen und entscheiden, dass sie vergewaltigt wurde. Er ist nicht gut genug, als dass sie ohne Bedauern aufwachen würde.«
»Was heißt, er ist nicht gut genug? Anita, Sie reden so, dass es niemand versteht.«
»Ich habe selbst erlebt, wie furchtbar Vampire sein können, Zerbrowski. Aber sie sind nicht nur gefährlich, sondern auch schön, faszinierend, wie ein Tiger im Zoo. Auch wenn sie nicht von einer Blutlinie abstammen, die sie nach dem Tod schöner macht, besitzen sie Ausstrahlung, haben etwas Mystisches an sich, eine Aura der Selbstsicherheit oder dergleichen. Aber den Kirchenmitgliedern, mit denen wir seit gestern Nacht gesprochen haben, fehlt das alles.«
»Ich frage noch einmal: Möchten wir, dass sie so faszinierend und mächtig sind? Wäre das nicht schlecht?«
»Für die Verbrechensrate und den Frieden in der Bevölkerung ja, aber Zerbrowski, die Kirche hat diese Menschen überredet, sich töten zu lassen. Und wofür? Ich habe jahrelang versucht, Menschen auszureden, sich dieser Kirche anzuschließen, habe aber selten mit Mitgliedern gesprochen, da ich die nicht mehr retten kann.«
Er schaute mich belustigt an, und ich konnte es ihm wohl kaum übel nehmen. »Sie finden nach wie vor, dass Vampire Tote sind. Sie sind mit einem zusammen und denken trotzdem, dass sie Tote sind.«
»Jean-Claude hat, seit er Meister von St. Louis ist, keine neuen Vampire mehr gemacht, Zerbrowski.«
»Warum nicht? Inzwischen ist es legal.«
»Ich glaube, weil er meine Meinung teilt.«
Er zog die Brauen zusammen und setzte die Brille ab, um sich die Druckstellen zu reiben, setzte sie wieder auf und schüttelte den Kopf. »Ich bin bloß ein ungebildeter Polizist. Von Ihren Vorträgen bekomme ich Kopfschmerzen.«
»Ungebildet. Von wegen! Katie hat mir erzählt, dass Sie während der Berufsausbildung Philosophie studiert haben. Welcher Bulle hat einen Abschluss in Philosophie?«
Er sah mich von der Seite an. »Wenn Sie das weitererzählen, werde ich es abstreiten und sagen, dass Sie von dem ständigen Sex mit Untoten halluzinieren.«
»Glauben Sie mir, Zerbrowski, wenn ich halluziniere, dann nicht über Sie.«
»Das war ein Tiefschlag, Blake, ich habe Sie höchstens geneckt.« Sein Handy klingelte. Noch über meinen Tiefschlag lächelnd, klappte er es auf. »Zerbrow-« Weiter kam er nicht, und sein Lächeln verflüchtigte sich. »Sagen Sie das noch mal, Arnet. Scheiße. Wir sind unterwegs. Kreuze raus. Die fangen an zu leuchten, wenn ein Vampir in der Nähe ist.« Er rannte los, und legte auf. Ich rannte mit.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
Wir rannten mit klappernden Absätzen die Treppe hinunter. »Weibliche Leiche. Vampir verschwunden. Wohnung scheint verlassen.«
»Scheint?«
»Vampire sind trickreiche Scheißkerle«, sagte er.
Ich hätte gern widersprochen. Aber da ich das nicht konnte, sparte ich mir den Atem für den Sprint und kam vor Zerbrowski am Wagen an. Wären wir nicht zu einem neuen Tatort unterwegs gewesen, hätte ich ihn deswegen aufgezogen.
62
D ie Wohnung war wesentlich schöner als die, aus der wir gerade kamen. Es war dort
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