Blinder Instinkt - Psychothriller
nachgezeichnet, aus dem die kleine Sarah verschwunden war. Sie hatte das Fenster, hinter dem Sarahs Zimmer lag, besonders deutlich gezeichnet und durch eine Schraffur herausfallendes Licht angedeutet. Das
Gebäude bei Nacht, alle anderen Fenster längst dunkel, nur Sarahs noch erleuchtet.
Franziska hatte schon als Kind gern gemalt und gezeichnet. Später am Gymnasium hatte ihr Kunstlehrer sie immer wieder ermutigt und ihre Arbeiten gelobt. Er hätte es gern gesehen, wenn sie Kunst studiert hätte. Aber für Franziska war das Zeichnen immer nur eine Art der Zerstreuung gewesen, bei der sie ihre Gedanken zunächst baumeln lassen und später sortieren konnte. Es löste so manche Blockade, wenn sie einen Bleistift in den Fingern hielt und seine Spitze über Papier kratzen hörte. Dementsprechend sah ihre Schreibtischunterlage aus. Eines der großen Blätter reichte meist nicht länger als drei bis vier Tage, dann war es vollgekritzelt.
Warum dieses Heim? Warum dieses Mädchen? Und warum kannte er sich dort so gut aus, dass es ihm möglich gewesen war, sich in das Gebäude zu schleichen, ein Kind herauszuholen und ungesehen zu verschwinden? Er war durch den Lieferanteneingang gekommen, das hatten die Spurentechniker anhand von Bodenspuren herausgefunden, die er dort verloren hatte. Bodenspuren, die zu dem Platz im Wald passten, an dem er gelauert hatte. Aufgebrochen hatte er die Tür allerdings nicht, folglich verfügte er über einen Schlüssel. Da im Heim kein Schlüssel vermisst wurde, hatte er sich einen anfertigen lassen oder selbst angefertigt. So etwas verlangte Vorbereitung und Zeit.
Such den Feind im Schatten deiner Hütte lautete ein sudanesisches Sprichwort. Franziskas Erfahrung lehrte sie, dass die meisten Täter aus dem Umfeld der Opfer stammten, die Opfer sich ihnen anvertraut, sich auf sie verlassen hatten. Sarahs Mutter schied allerdings aus. Sie war überprüft worden. Ihr körperlicher und geistiger Zustand ließ
weder aktives Handeln noch eine Anstiftung zu. Beim Vater war es schwieriger, denn der war unbekannt. Ihn zu ermitteln war unmöglich, solange die Mutter seine Identität nicht preisgab. Die behauptete, selbst nicht zu wissen, wer der Vater sei, und der Einschätzung der Beamtin nach, die mit der Mutter gesprochen hatte, war sie glaubwürdig. Beinahe jedes Klischee, das man mit einer drogenabhängigen Gelegenheitsprostituierten verband, traf hier zu.
Nach all den Jahren, die der Vater hatte verstreichen lassen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, Kontakt zu seiner Tochter aufzunehmen, glaubte Franziska nicht an ihn als Täter. Stattdessen war sie sich sicher, dass der Täter zum Personal oder zu einem der Lieferdienste gehörte oder gehört hatte. Durch die Liste, die Frau Zierkowski hoffentlich gerade anfertigte, würden sie fündig werden, früher oder später.
Während Franziska ihre Zeichnung betrachtete und ihre Gedanken ordnete, fiel ihr wieder ein, was sie sich am Vormittag vorgenommen hatte. Der Täter hatte Sarah nicht wahllos gegriffen, nicht bei siebzehn weiteren blinden Kindern auf dem gleichen Gang. Folglich gab es an dem Mädchen etwas, was ihn besonders reizte. Vielleicht war es eine engere Beziehung als zu den anderen Kindern oder aber ihr Aussehen.
Franziska riss ihren PC aus dem Standby-Schlaf, ließ ihre Finger über ein paar Tasten fliegen und loggte sich in das nationale Register der Bundesbehörden ein. Dort ließen sich mit Schlagworten Querverbindungen zwischen Verbrechen herausfinden, selbst wenn die in verschiedenen Bundesländern stattgefunden hatten. Wenn das nicht weiterhalf, konnte sie auf Europol-Dateien zurückgreifen.
In das Suchfeld gab sie ein: Weiblich, achtjährig, blind, rothaarig, vermisst.
Bevor sie dazu kam, den Computer per Enter-Taste auf die Suche zu schicken, pochte es laut an ihrer nur angelehnten Tür, und Paul Adamek steckte den Kopf in ihr Büro.
»Ich bin sitzend am Schreibtisch eingeschlafen«, sagte er und gähnte. »Horst hat mich sozusagen telefonisch geweckt.«
Franziska warf einen Blick auf die Wanduhr. Zwanzig Uhr vorbei. Wieder einmal den Feierabend verpasst, und das an einem Sonntag. Horst Richter, Chef der Spurentechniker und Vater von vier Kindern, hatte Franziska schon draußen beim Helenenstift versprochen, dass er heute so lange arbeiten würde, bis er fündig geworden war. Scheinbar hatte er sein Wort gehalten.
»Und? Was hat er gefunden?«
»Erst einen Kaffee oder erst das Ergebnis?«, fragte Paul.
»Spann mich
Weitere Kostenlose Bücher