Blinder Instinkt - Psychothriller
seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hatte.
»Zehn Jahre!«, rief er aus, »zehn gottverdammte Jahre, und es hat sich nichts verändert. Nichts!« Seine Stimme zitterte.
Dann drehte er sich plötzlich um und lief auf den Böschungswall zu, hinterließ dabei tiefe Fußabdrücke in dem vom letzten Regen feuchten Sand. Auf Händen und Füßen, mit hektischen Bewegungen, krabbelte er die steile Böschung hinauf, rutschte aus, fing sich wieder, wurde noch schneller.
»Max … Warten Sie!«
Franziska konnte ihm kaum folgen.
Obwohl es nicht mehr als vier Meter Höhenunterschied waren, war der Blick von dort oben über die Landschaft doch erstaunlich. Hinter ihnen lag dunkel der Wald, vor ihnen der Bachlauf, die Felder, die Dächer der Häuser, der weite Himmel.
»Da unten«, sagte Max schließlich, und Franziska hörte, dass er den Tränen nahe war, »da unten hat sie im Sand gelegen und sich einfach nur darüber gefreut zu leben. Sie hat sich über ihr Leben gefreut, über dieses beschissene Leben ohne Augenlicht … In diesem Moment fand sie ihr Leben toll … Und ich fand es toll … Aber man hat es ihr genommen … Irgend so ein Arschloch hat es ihr genommen, und wenn ich den jemals zwischen die Finger bekomme …«
Der Kampf in seinem Inneren dauerte nur ein paar Sekunden an. Franziska konnte zusehen, wie die harte Schale des großen, gefährlichen Max Ungemach von seinen Gefühlen gesprengt wurde. Er begann gleichzeitig zu zittern und zu weinen.
Franziska spürte einen Kloß im Hals und ihre eigenen Tränen dicht hinter den Augen. Sie hatte in ihrer Laufbahn schon oft Situationen erlebt, in denen Angehörige oder Opfer in Tränen ausgebrochen waren, hatte dabei aber stets eine professionelle Distanz gewahrt. Doch das war ihr jetzt nicht möglich. Sie wollte es auch gar nicht. Sie überwand den einen Schritt, der sie noch voneinander trennte, und nahm Max in die Arme. Ohne Gegenwehr ließ er es zu, dass sie ihn an sich drückte. Während Franziska mit den Händen über seinen Rücken strich, spürte sie seinen Atem und seine Tränen an ihrem Hals.
Es war ihr weder unangenehm, noch empfand sie Scham dabei, ganz im Gegenteil genoss sie diesen doch so traurigen Moment. Noch nie hatte ein Mann in ihren Armen geweint, noch nie war ihr ein Mann so nahe gekommen, und ganz egal, was noch geschehen würde oder wie sie in Zukunft zueinander stehen würden, diesen Moment würden sie für immer miteinander teilen.
39
Sarah zog ihre Hand weg.
Gerade eben war etwas über ihren Handrücken gekrabbelt, mit langen, haarigen Beinen, die ein bisschen gekratzt hatten. Das war keine Einbildung gewesen, kein Überbleibsel aus ihrem unruhigen Schlaf. Nein, da war wirklich etwas über ihre Hand gekrabbelt, und es hatte sich widerlich angefühlt, zugleich aber auch so, als wäre es hier zuhause und würde sie als Eindringling betrachten.
Sarah hatte Angst. Der Mann, dem sie nicht trauen durfte,
war zurückgekehrt, hatte sie aus dem Bett gerissen und in den Wald gebracht. Diesen schrecklichen Wald der Tausend Beinchen. Dabei hatte sie doch gar nichts getan! Oder hatte er vielleicht mitbekommen, wie sie durch Klopfzeichen versucht hatte, auf sich aufmerksam zu machen? Bekam sie jetzt ihre Strafe dafür? Er war ganz anders gewesen als sonst, hatte nicht ein Wort mit ihr gesprochen und auch nicht reagiert, als sie ihn um Essen und Trinken bat. Dabei lag ihre letzte Mahlzeit bereits so lange zurück, dass ihr Magen zu knurren begann.
Sie hätte die Tasse nicht kaputt machen dürfen!
Vielleicht hätte er ihr dann wenigstens Milch eingegossen.
Plötzlich hörte sie wieder die Geräusche.
Das flinke, hektische Krabbeln der tausend Beinchen, das sie bereits kannte. Darunter aber auch ein neues Geräusch. Kein Gekrabbel, sondern ein durchgängiges Schleichen, ein ständiges leichtes Berühren des Bodens, dabei schnell und langsam gleichzeitig, und auf eine Art geschmeidig, als würde Wasser durch ein Waschbecken fließen.
Plötzlich fühlte Sarah sich ausgeliefert, wie sie so am Boden hockte. Sie sprang auf und stellte sich hin. Trotzdem waren ihre nackten Füße natürlich ein schutzloses Angriffsziel.
Weg!
Sie musste hier weg!
Wo jeder sehende Mensch in Panik geflüchtet wäre, setzte sie behutsam tastend einen Fuß vor den anderen, streckte dabei die Arme aus und ließ die Finger auf der Suche nach Hindernissen voranschweben. Sie ertastete Äste, Blätter, merkwürdige Fäden, dann den rauen Stamm eines Baumes.
Dort
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