Blinder Passagier
schimpfte Marino, nachdem auch er durch die Röhre gegangen war. »Woher weiß ich, dass man von so was nicht Krebs kriegt? Oder andere Probleme, wenn man ein Mann ist.«
»Sei still«, sagte ich.
Wir warteten ziemlich lang, bevor ein Mann in dem Durchgang auftauchte, der den Sicherheitsbereich mit dem Hauptgebäude verband. Er sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Er hatte den federnden Gang eines jugendlichen Athleten, und sein gut gebauter Körper steckte in einem eleganten, teuren anthrazitfarbenen Anzug. Er trug ein gestärktes weißes Hemd und eine braun, blau und grün gemusterte Hermes-Krawatte. Als er uns die Hände schüttelte, bemerkte ich zudem eine goldene Uhr.
»Jay Talley. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten«, sagte er.
Seine haselnussbraunen Augen blickten mich so durchdringend an, dass ich mich von ihnen beinahe vergewaltigt fühlte, seine dunkle Schönheit war so umwerfend, dass ich gleich wusste, was für ein Typ Mann er war, denn so attraktive Männer sind alle gleich. Ich sah, dass auch Marino nichts mit ihm anfangen konnte.
»Wir haben miteinander telefoniert«, sagte er, als würde ich mich nicht erinnern.
»Und seitdem habe ich kein Auge mehr zugetan«, erwiderte ich, unfähig, so sehr ich mich auch bemühte, den Blick von ihm zu wenden.
»Bitte. Wenn Sie mir folgen wollen.«
Marino sah mich an und krümmte hinter Talleys Rücken den Finger, wie er es immer tat, wenn er auf der Stelle beschloss, dass jemand homosexuell war. Talley hatte breite Schultern und keine Taille. Sein Profil war geformt wie das eines römischen Gottes, seine Lippen waren voll, sein Kinn stark.
Sein Alter stellte mich vor ein Rätsel. Normalerweise waren Posten in Übersee heiß begehrt und wurden ranghohen erfahrenen Agenten zugeteilt, aber Talley schien noch nicht mal dreißig zu sein. Er führte uns in einen marmornen, vierstöckigen hellen Innenhof, in dessen Mittelpunkt sich ein farbenprächtiges Mosaik befand, das die Welt darstellte. Sogar die Aufzüge waren aus Glas.
Nach einer Reihe von elektronischen Schlössern, Summern, Zahlenkombinationen und Videokameras, die jeden unserer Schritte verfolgten, stiegen wir im dritten Stock aus. Ich kam mir vor, als befände ich mich in geschliffenem Kristallglas. Talley schien zu lodern. Ich fühlte mich benommen und missmutig, weil es nicht meine Idee gewesen war, hierher zu kommen, und ich die Lage nicht unter Kontrolle hatte.
»Und was ist da oben?« Marino, stets der Inbegriff der Höflichkeit, zeigte mit dem Finger.
»Der vierte Stock«, sagte Talley ungerührt.
»Der Aufzugknopf ist nicht nummeriert, und es sieht so aus, als bräuchte man dafür einen Schlüssel«, fuhr Marino fort und starrte auf die Decke des Aufzugs. »Hab mich nur gefragt, ob ihr da oben eure Computer aufgestellt habt.«
»Der Generalsekretär wohnt dort oben«, sagte Talley sachlich, als wäre das nichts Außergewöhnliches.
»Ach was?«
»Aus Sicherheitsgründen. Er und seine Familie leben in dem Gebäude«, sagte Talley, während wir an normal aussehenden Büros und normal aussehenden Leuten drin vorbeigingen. »Wir gehen jetzt zu ihm.«
»Gut. Vielleicht kann der uns sagen, warum zum Teufel wir eigentlich hier sind«, sagte Marino.
Talley öffnete eine Tür aus massivem dunklem Holz, und wir wurden zuvorkommend von einem Mann begrüßt, der mit britischem Akzent sprach und sich als Direktor der Kommunikationsabteilung vorstellte. Er ließ Kaffee kommen und teilte Generalsekretär Mirot mit, dass wir da waren. Ein paar Minuten später begleitete er uns in ein privates Büro, in dem Mirot, ein imposanter grauhaariger Mann, hinter einem schwarzen Schreibtisch saß. An den Wänden hingen antike Waffen und Medaillen, sowie Geschenke aus anderen Ländern. Mirot stand auf und schüttelte uns die Hände.
»Machen wir es uns bequem«, sagte er.
Er führte uns zu einer Sitzgruppe neben einem Fenster, das auf die Rhone hinausging. Talley nahm einen dicken Aktenordner vom Tisch.
»Ich weiß, dass es eine ziemliche Qual für Sie war, und ich bin sicher, dass Sie sehr erschöpft sind«, sagte Mirot in korrektem Englisch. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie gekommen sind. Vor allem so kurzfristig.«
Seine undurchdringliche Miene und sein militärisches Gebaren enthüllten nichts, und neben ihm schien alles zu schrumpfen. Er setzte sich in einen Sessel und schlug die Beine übereinander.
Marino und ich setzten uns auf die Couch, Talley nahm mir gegenüber Platz
Weitere Kostenlose Bücher