Blinder Passagier
plötzlich lautlos in Bewegung. Wir glitten aus dem Bahnhof, und dann flogen blauer Himmel und Bäume vorbei. Mir war heiß, und ich hatte Durst. Ich versuchte zu schlafen, das Sonnenlicht blendete meine geschlossenen Augen.
Ich wachte auf, als eine Engländerin zwei Reihen hinter mir über Handy telefonierte. Ein alter Mann auf der anderen Seite des Gangs war in ein Kreuzworträtsel vertieft. Ein entgegenkommender Zug rüttelte unseren Waggon durch, und kurz vor Lyon war es bewölkt und begann zu schneien.
Marino starrte aus dem Fenster und wurde zunehmend missmutig, und als wir in Lyon Part-Dieu ausstiegen, war er ausgesprochen unhöflich. Während der Taxifahrt schwieg er, und ich wurde immer wütender, als ich mir ins Gedächtnis rief, was er mir am Abend zuvor rücksichtslos ins Gesicht gesagt hatte.
Wir näherten uns der Altstadt, wo Rhone und Saone zusammenfließen, und die Häuser und alten Mauern erinnerten mich an Rom. Ich fühlte mich grauenhaft. Meine Seele schmerzte. Ich fühlte mich so allein wie nie zuvor, als würde ich nicht existieren, als wäre ich Teil eines Albtraums, den jemand anders träumte.
»Ich hoffe auf nichts mehr«, sagte Marino aus heiterem Himmel. »Vielleicht sage ich noch, was wäre wenn, aber ich hoffe auf nichts mehr. Es ist sinnlos. Meine Frau hat mich vor langer Zeit verlassen, und immer noch habe ich niemanden gefunden, der zu mir passt. Jetzt bin ich vom Dienst suspendiert und überlege, für dich zu arbeiten. Und wenn ich's täte? Du würdest mich nicht mehr respektieren.« »Natürlich würde ich das.«
»Quatsch. Wenn man für jemanden arbeitet, ändert sich alles, und das weißt du auch.«
Er sah niedergeschlagen und erschöpft aus, seinem Gesicht und seiner zusammengesunkenen Haltung war das anstrengende Leben, das er führte, anzusehen. Er hatte Kaffee auf sein zerknittertes Jeanshemd verschüttet, und seine Khakihosen waren lächerlich weit. Mir fiel auf, dass die Hosen, die er kaufte, umso größer wurden, je dicker er wurde, als könnte er sich oder jemand anders hinters Licht führen.
»Weißt du, Marino, es ist nicht sehr nett von dir, indirekt zu behaupten, dass es nichts Schlimmeres für dich gäbe, als für mich zu arbeiten.«
»Vielleicht wäre es nicht das Schlimmste. Aber so ziemlich«, sagte er.
33
Das Hauptquartier von Interpol stand einsam am Parc de la Tete d'Or. Es war eine Festung aus reflektierendem Glas, und man sah ihm nicht an, was es beherbergte. Ich war überzeugt, dass eigentlich alle, die vorbeifuhren, die unauffälligen Zeichen nicht bemerkten, die auf seine Bestimmung hinwiesen. Die von Platanen gesäumte Straße, wo es stand, war nicht beschildert, wenn man also nicht wusste, wohin man wollte, würde man wahrscheinlich nie dort ankommen. Kein Schild verkündete Interpol, ja, es gab überhaupt keine Schilder.
Satellitenschüsseln, Antennen, Betonabsperrungen und Videokameras waren kaum auszumachen, und der oben mit Stacheldraht geschützte grüne Metallzaun wurde von Pflanzen verdeckt. Das Hauptquartier der einzigen internationalen Polizeiorganisation der Welt wirkte still, friedlich und gestattete denjenigen, die darin arbeiteten, hinauszuschauen, und niemandem, hineinzublicken. Auf dem Dach stand der Jahreszeit entsprechend ein kleiner Weihnachtsbaum.
Es war niemand zu sehen, als ich auf den Knopf der Sprechanlage am Tor drückte, um unsere Ankunft mitzuteilen. Eine Stimme bat uns, uns zu identifizieren, und nachdem wir das getan hatten, klickte das Schloss. Marino und ich gingen einen Gehsteig entlang auf ein vorgelagertes Gebäude zu, eine weitere Tür öffnete sich, und ein Wachmann in Anzug und Krawatte, der aussah, als könnte er Marino mit dem kleinen Finger hochheben und nach Paris zurückschleudern, nahm uns in Empfang. Hinter kugelsicherem Glas saß ein weiterer Wachmann, der eine Schublade aufzog und unsere Pässe gegen Besucherausweise austauschte.
Auf einem Förderband wurden unsere persönlichen Dinge durch einen Röntgenapparat geschleust, und der Wachmann, der uns begrüßt hatte, wies uns mehr mit Gesten denn mit Worten an, einzeln nacheinander etwas zu betreten, was wie eine vom Boden bis zur Decke reichende, durchsichtige Rohrpoströhre aussah. Ich folgte der Aufforderung, fast in der Erwartung, irgendwohin gesaugt zu werden, und eine gewölbte Plexiglastür schloss sich hinter mir. Vor mir öffnete sich eine andere, und jedes meiner Moleküle war gescannt worden.
»Was zum Teufel ist das? Star Trek?«,
Weitere Kostenlose Bücher