Blinder Passagier
schien den unverwechselbaren Geruch nach Tod zu bemerken, der durch die vergitterten Fenster und die schwarze gusseiserne Tür des Instituts sickerte.
Ruth Stvan war bekannt für das ungewöhnliche System, das sie hier eingeführt hatte. Besucher wurden von Hostessen empfangen. Kaum hatten Trauernde die Schwelle überschritten, wurden sie von jemandem betreut, der freundlich war und ihnen den Weg zeigte. Eine der Hostessen begrüßte mich und führte mich durch einen gekachelten Korridor, wo Ermittlungsbeamte auf blauen Stühlen saßen und warteten. Ich sprach genug Französisch, um zu verstehen, dass jemand in der Nacht aus einem Fenster gesprungen war.
Ich folgte der schweigsamen Hostess an einer kleinen Kapelle mit bunten Glasfenstern vorbei, in der ein Paar vor einem weißen Sarg mit einem Jungen weinte. Der Umgang mit dem Tod war hier anders als bei uns. In Amerika hatte man schlichtweg zu wenig Zeit und Geld für Hostessen, Kapellen und Handhalten. In unserer Gesellschaft waren Schießereien an der Tagesordnung, und die Toten hatten keine Lobby.
Dr. Stvan bearbeitete einen Fall in der Salle d'Autopsie, dem Autopsieraum, der als solcher mit einem Schild über einer automatischen Tür gekennzeichnet war. Als ich eintrat, überkam mich erneut Angst. Ich hätte nicht hierher kommen sollen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ruth Stvan legte eine Lunge auf eine Waage, ihr grüner Kittel und ihre Brille blutbespritzt.
Ich sah, dass es sich bei ihrem Fall um den Selbstmörder handelte. Sein Gesicht war zerschmettert, seine Füße waren aufgerissen, die Schienbeine in die Oberschenkel getrieben.
»Geben Sie mir bitte noch eine Minute«, sagte Dr. Stvan zu mir.
Zwei andere Fälle wurden von weiß gekleideten Ärzten bearbeitet. Auf einer Tafel standen Namen und Fallnummern. Eine Stryker-Säge öffnete einen Schädel, während Wasser laut in Becken plätscherte. Dr. Stvan bewegte sich schnell und energisch, sie war hellhäutig und grobknochig und älter als ich. Ich erinnerte mich, dass sie in Genf sehr zurückhaltend gewesen war.
Sie bedeckte den Toten mit einem Tuch und zog ihre Handschuhe aus. Als sie mit sicheren festen Schritten auf mich zukam, band sie ihren Kittel auf.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Wenn sie das für eine seltsame Antwort hielt, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Folgen Sie mir bitte, wir können uns unterhalten, während ich mich wasche. Dann trinken wir einen Kaffee.«
Sie führte mich in einen kleinen Umkleideraum und warf ihren Kittel in einen Wäschekorb. Wir wuschen uns beide die Hände mit antibakterieller Seife, sie wusch sich auch das Gesicht und trocknete es mit einem rauen blauen Handtuch.
»Dr. Stvan«, sagte ich, »ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen freundlich zu plaudern oder mich über Ihr rechtsmedizinisches System zu informieren. Wir wissen das beide.«
»Selbstverständlich«, sagte sie und blickte mich an. »Ich bin nicht gesellig genug für einen Anstandsbesuch.« Sie lächelte leise. »Ja, wir sind uns in Genf über den Weg gelaufen, Dr. Scarpetta, aber wir haben nichts gemeinsam unternommen. Wirklich schade. Damals gab es so wenige Frauen.«
Sie redete, während wir einen Flur entlanggingen.
»Als Sie anriefen, wusste ich, worum es geht, denn ich war es, die um ein Treffen mit Ihnen gebeten hat«, fügte sie hinzu.
»Es macht mich ein wenig nervös, dass Sie das sagen. Als wäre ich nicht schon nervös genug.«
»Wir verfolgen die gleichen Ziele im Leben. Wenn Sie ich wären, würde ich Sie aufsuchen, verstehen Sie? Diese Sache darf nicht so weitergehen. Wir dürfen nicht noch eine Frau so sterben lassen. Jetzt in Amerika, in Richmond. Dieser Loup-Garou ist ein Ungeheuer.«
Wir betraten ihr Büro, das keine Fenster hatte. Überall lagen Akten, Zeitschriften, Papiere herum. Sie nahm den Telefonhörer, wählte und bat um Kaffee.
»Bitte, machen Sie es sich bequem, soweit das möglich ist. Ich würde die Sachen ja wegräumen, wenn ich wüsste wohin.«
Ich zog einen Stuhl nahe an ihren Schreibtisch.
»In Genf fühlte ich mich fehl am Platze«, sagte sie, als sie die Tür schloss. Offenbar waren ihre Gedanken zu dieser Erinnerung zurückgesprungen. »Zum Teil wegen unseres Systems hier in Frankreich. Rechtsmediziner sind hier vollkommen isoliert, das hat sich nicht geändert und wird sich zu meinen Lebzeiten wohl auch nicht mehr ändern. Wir dürfen mit niemandem sprechen, was nicht immer das Schlechteste ist,
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