Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Fenster.
    »Doc, was ist los?« Er klang erschrocken. »Ist irgendetwas passiert?«
    Er kam zu mir und legte mir die Hände auf die Schultern, und es war das erste Mal, dass er das tat, seit ich ihn kannte. »Sag schon. Was sind das für Diagramme und Zeug auf dem Bett? Ist mit Lucy alles in Ordnung?« »Lass mich allein«, sagte ich. »Nur wenn du mir sagst, was los ist.« »Geh weg.«
    Ich nahm seine Hände fort und spürte die kühlen Stellen, die sie hinterlassen hatten. Ich spürte die Distanz zwischen uns. Er ging durch das Zimmer, und ich hörte, wie er die Faxe in die Hand nahm. Er schwieg.
    Dann sagte er: »Was zum Teufel tust du da? Willst du dich selbst in den Wahnsinn treiben? Warum um alles in der Welt willst du dir das anschauen?« Seine Stimme wurde lauter, je mehr Panik und Schmerz er empfand. »Warum? Du hast den Verstand verloren!«
    Ich wirbelte herum und stürzte mich auf ihn. Ich entriss ihm das Papier und fuchtelte damit vor seinem Gesicht herum. Kopien von Leichen-Diagrammen, toxikologischen Ergebnissen, Berichten über die vorgelegten Beweismittel, vom Totenschein, von Schaubildern seines Gebisses, Analysen seines Mageninhalts segelten auf den Boden wie vertrocknetes Laub.
    »Weil du es sagen musstest«, schrie ich ihn an. »Du musstest dein großes Maul aufreißen und sagen, dass er nicht tot ist! Und jetzt wissen wir's, richtig? Lies es verdammt noch mal selbst, Marino.«
    Ich setzte mich aufs Bett und wischte mir Augen und Nase mit der Hand ab.
    »Lies es und erwähn es nie wieder«, sagte ich. »Sag es nie wieder. Sag nie wieder, dass er am Leben ist. Tu mir so etwas nie wieder an.«
    Das Telefon klingelte. Er riss den Hörer von der Gabel.
    »Was ist!«, schrie er. »Ach ja?«, fügte er kurz darauf hinzu. »Sie haben Recht. Wir stören die verdammte Ruhe, und schicken Sie ruhig den beschissenen Sicherheitsdienst herauf, ich werde ihn gleich wieder runterschicken, weil ich ein verdammter beschissener Polizist bin und im Augenblick eine verdammte Scheißlaune habe!«
    Er knallte den Hörer auf und setzte sich neben mich aufs Bett.
    Auch ihm standen Tränen in den Augen.
    »Und was machen wir jetzt, Doc? Verdammt noch mal, was machen wir jetzt?«
    »Er wollte, dass wir zusammen essen, damit wir miteinander streiten und uns hassen und weinen«, murmelte ich, während mir Tränen über die Wangen liefen. »Er wusste, dass wir aufeinander losgehen und uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben würden, weil es unsere einzige Möglichkeit ist, es rauszulassen und dann weiterzuleben.«
    »Ja, vermutlich hat er ein Profil von uns erstellt«, sagte Marino.
    »Wahrscheinlich hat er das. Als hätte er gewusst, dass es passieren würde und wie wir reagieren würden.«
    »Er kannte mich«, sagte ich leise. »Und wie er mich kannte. Er wusste, dass ich schlechter damit fertig werden würde als alle anderen. Ich weine nie. Ich will einfach nicht heulen! Ich habe gelernt, nicht zu weinen, als mein Vater starb, weil Weinen bedeutete, etwas zu fühlen, und das war mehr, als ich ertragen konnte. Es war, als könnte ich innerlich austrocknen und zu einer rasselnden Samenschote werden, meine Gefühle winzig, hart rasselnd. Ich bin fix und fertig, Marino. Ich glaube nicht, dass ich jemals darüber hinwegkommen werde. Vielleicht wäre es gut, wenn ich gefeuert würde. Oder kündigen.«
    »Soweit wird es nicht kommen«, sagte er.
    Als ich nicht antwortete, stand er auf und zündete sich eine Zigarette an. Er schritt auf und ab.
    »Willst du was essen?«, fragte er.
    »Ich will nur schlafen«, sagte ich.
    »Vielleicht wäre es nicht schlecht, ein bisschen rauszugehen.« »Nein, Marino.«
    Ich setzte mich mit Benadryl außer Gefecht, und als ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett quälte, hatte ich einen dicken Kopf. Im Badezimmerspiegel sah ich meine geschwollenen müden Augen. Ich wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser, zog mich an und rief um halb acht ein Taxi - diesmal ohne Hilfe von Interpol.
    Das Institut Medico-Legal, ein dreistöckiger Klinker- und Kalksteinbau, befand sich im Osten der Stadt. Die Schnellstraße nach Voie trennte das Gebäude von der Seine, die an diesem Morgen honigfarben schimmerte. Der Taxifahrer setzte mich vor dem Eingang ab, und ich durchquerte einen kleinen hübschen Park mit Primeln, Stiefmütterchen, Gänseblümchen, Wildblumen und alten Platanen. Ein junges Paar saß sich liebkosend auf einer Bank, und ein alter Mann führte seinen Hund spazieren.
    Keiner von ihnen

Weitere Kostenlose Bücher