Blinder Passagier
nicht in mein Leben ein.«
»Der arme Benton. Verdammt gut, dass er tot ist, was? Beweist nur, wie sehr du ihn geliebt hast.«
Er blieb stehen und streckte mir seinen Finger ins Gesicht.
»Und ich habe gedacht, du wärst anders! Was hast du getan, wenn Benton nicht hingesehen hat? Das würde ich gern wissen!
Und die ganze Zeit über hast du mir Leid getan.«
»Verschwinde sofort aus meinem Zimmer.« Mit meiner Selbstbeherrschung war es vorbei. »Du gottverdammtes eifersüchtiges Arschloch! Wie kannst du es nur wagen, meine Beziehung zu Benton auch nur zu erwähnen? Was weißt du schon? Nichts, Marino. Er ist tot. Er ist seit über einem Jahr tot, Marino. Und ich bin nicht tot, und du bist es auch nicht.«
»Im Augenblick wünschte ich, du wärest es.«
»Du klingst wie Lucy, als sie zehn war.«
Er marschierte aus dem Zimmer und schlug die Tür so fest zu, dass die Bilder an der Wand und der Kronleuchter wackelten.
Ich griff zum Telefon und rief die Rezeption an.
»Ist ein Jay Talley in der Lobby?«, fragte ich. »Groß, dunkelhaarig, jung. Er trägt eine beige Lederjacke und Jeans.«
»Ja, ich sehe ihn, Madame.«
Sekunden später war Talley am Apparat.
»Marino ist gerade hier rausgestürmt«, sagte ich. »Er darf dich nicht sehen, Jay. Er ist völlig durchgeknallt.«
»Er kommt gerade aus dem Aufzug. Du hast Recht. Er sieht ein bisschen durchgeknallt aus. Ich lege jetzt auf.«
Ich rannte, so schnell ich konnte, aus dem Zimmer, durch den Flur und die Treppen hinunter, ignorierte die erstaunten Blicke von gut gekleideten, zivilisierten Menschen, die gemächlichen Schritts einherschlenderten und im Grand Hotel von Paris keine Faustkämpfe veranstalteten. Ich wurde langsamer, als ich die Lobby erreichte, außer Atem und mit brennenden Lungen, und entsetzt mit ansah, wie Marino auf Talley losging und zwei Pagen und ein Portier einzuschreiten versuchten. Ein Mann an der Rezeption wählte hektisch eine Nummer, vermutlich die der Polizei.
»Marino, nein!«, rief ich laut und selbstsicher, als ich zu ihm lief.
»Marino, nein!« Ich fasste ihn am Arm.
Seine Augen waren glasig, und er schwitzte. Gott sei Dank, dass er keine Waffe hatte, denn er hätte sie womöglich benutzt. Ich hielt ihn am Arm fest, während Talley gestikulierte und auf Französisch allen versicherte, dass alles in Ordnung sei, und bat, die Polizei nicht zu verständigen. Ich führte Marino an der Hand durch die Lobby wie eine Mutter, die ihren kleinen Sohn wegen schlechten Benehmens zurechtweisen will. Ich führte ihn an Portiers und teuren Wagen vorbei hinaus auf den Gehsteig, wo ich stehen blieb.
»Hast du eine Ahnung, was du da tust?«, fragte ich ihn.
Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er atmete so schwer, dass er keuchte. Mir ging durch den Sinn, dass er vielleicht einen Herzinfarkt haben könnte.
»Marino.« Ich schüttelte ihn am Arm. »Hör mir zu. Was du da drin gerade getan hast, ist unglaublich. Talley hat dir nichts getan. Ich habe dir nichts getan.«
»Vielleicht springe ich nur für Benton ein, weil er nicht mehr da ist, um es selbst zu tun«, sagte Marino mit tonloser, erschöpfter Stimme.
»Nein. Du wolltest auf Carrie Grethen und Joyce einschlagen.
Sie willst du verprügeln, verletzen, umbringen.« Er atmete tief ein und aus.
»Meinst du, ich wüsste nicht, was du tust?«, fuhr ich mit fester leiser Stimme fort.
Leute gingen an uns vorbei wie Schatten. Licht fiel aus belebten Restaurants und Cafes, die kleinen Tische draußen waren alle besetzt.
»Du musst es an jemandem auslassen«, sagte ich. »So funktioniert das. Und an wem? Carrie und Joyce sind tot.«
»Du und Lucy - ihr habt die verfluchten Wichser wenigstens umgebracht. Ihre verdammten Ärsche aus der Luft geschossen.«
Marino begann zu schluchzen. »Komm«, sagte ich.
Ich hakte mich bei ihm unter, und wir gingen los.
»Ich habe sie nicht umgebracht«, sagte ich. »Nicht dass ich gezögert hätte, Marino. Aber Lucy hat abgedrückt. Und weißt du was? Ihr geht es deswegen auch nicht besser. Sie ist voll schwelendem Hass und schlägt und schießt sich einen Weg durchs Leben. Auch sie wird ihren Tag der Abrechnung erleben. Und heute ist deiner. Jetzt lass los.«
»Warum hast du es mit ihm gemacht?«, fragte er mit leiser, schmerzerfüllter Stimme, als er sich mit dem Arm über die Augen fuhr. »Wieso, Doc? Warum er?«
»Niemand ist gut genug für mich, ist es das?«, sagte ich.
Darüber musste er nachdenken.
»Und niemand ist genug
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