Blinder Passagier
Leichenschauhaus fahren, wo ich alles dransetzen würde, um ihn zum Sprechen zu bringen.
»Verdammt!«, hörte ich einen von ihnen sagen. »Dafür krieg ich nicht genug bezahlt.«
»Brauchst du mir nicht zu sagen.«
Ich folgte ihnen aus der Lagerhalle hinaus in das blendende Sonnenlicht und die frische Luft. Marino hatte immer noch sein schmutziges Unterhemd an und sprach mit Anderson und Bray auf dem Dock. Aus seiner Art zu gestikulieren, schloss ich, dass Brays Anwesenheit ihn etwas zügelte. Ihr Blick traf mich, als ich mich ihnen näherte. Sie stellte sich nicht vor, deshalb nannte ich meinen Namen, ohne ihr die Hand zu reichen.
»Ich bin Dr. Scarpetta«, sagte ich zu ihr.
Sie reagierte darauf mit einem vagen Blick, als hätte sie keine Ahnung, wer ich war oder warum ich mich hier aufhielt.
»Ich glaube, es wäre angebracht, wenn wir zwei uns unterhielten«, fügte ich hinzu.
»Wer sagten Sie, sind Sie?«, fragte Bray.
»Herrgott noch mal!«, explodierte Marino. »Sie weiß ganz genau, wer du bist.«
»Captain.« Brays Tonfall hatte die Wirkung einer schnalzenden Reitpeitsche.
Marino hielt den Mund, Anderson ebenfalls.
»Ich bin die Chefpathologin«, erklärte ich Bray, was sie bereits wusste. »Kay Scarpetta.«
Marino verdrehte die Augen. Anderson verzog das Gesicht vor Widerwillen und Missgunst, als Bray mit einer Handbewegung bat, mich ein paar Schritte mit ihr zu entfernen. Wir gingen an den Rand des Docks, wo die Sirius über uns aufragte und still in der gekräuselten schmutzig blauen Strömung lag.
»Tut mir Leid, dass ich Ihren Namen zuerst nicht wieder erkannte«, begann sie. Ich erwiderte nichts.
»Das war sehr unhöflich von mir«, fuhr sie fort. Ich schwieg.
»Wir hätten uns schon früher kennen lernen sollen. Aber ich hatte so viel zu tun. Jetzt sind wir also hier. Und das ist gut so, wirklich. Perfektes Timing, könnte man sagen« - sie lächelte -»dass wir uns auf diese Weise kennen lernen.«
Diane Bray war eine hochmütige Schönheit mit schwarzem Haar und ebenmäßigen Gesichtszügen. Ihre Figur war umwerfend. Die Hafenarbeiter verschlangen sie mit den Blicken.
»Wissen Sie«, fuhr sie in dem gleichen kühlen Tonfall fort, »es gibt da ein kleines Problem. Ich bin Captain Marinos Vorgesetzte, aber er scheint zu glauben, dass er für Sie arbeitet.«
»Unsinn«, sagte ich schließlich. Sie seufzte.
»Sie haben der Stadt den erfahrensten, anständigsten Detecti-ve aus dem Morddezernat abgezogen, den es hier je gegeben hat, Chief Bray«, sagte ich. »Und ich sollte das beurteilen können.«
»Sicher können Sie das.«
»Was wollen Sie erreichen?«, fragte ich sie.
»Es ist Zeit, dass junges Blut sich bewähren kann, Detecti-ves, die nichts dagegen haben, einen Computer einzuschalten, E-Mails zu schreiben. Ist Ihnen klar, dass Marino nicht einmal Textverarbeitung beherrscht? Sondern mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine herumhämmert?«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Ganz zu schweigen davon, dass er unbelehrbar ist und den Gehorsam verweigert. Sein Verhalten ist eine Schande für die gesamte Polizei«, fuhr sie fort.
Anderson war davongeschlendert und hatte Marino beim Wagen stehen lassen, wo er lehnte und rauchte. Seine Arme und Schultern waren dick und behaart, seine Hose, die ein Gürtel unter seinem Bauch festhielt, sah aus, als würde sie jeden Augenblick hinunterrutschen. Ich wusste, dass er sich gedemütigt fühlte, weil er sich weigerte, in unsere Richtung zu blicken.
»Warum sind keine Leute von der Spurensicherung hier?«, fragte ich Bray.
Ein Hafenarbeiter stieß einen anderen mit dem Ellbogen an und fuhr sich mit gewölbten Handflächen über die Brust, als streichelte er Brays große Brüste.
»Warum sind Sie hier?«, fragte ich sie dann.
»Weil ich benachrichtigt wurde, dass Marino hier ist«, erwiderte sie. »Er wurde gewarnt. Ich wollte mich selbst überzeugen, ob er meine Befehle so offenkundig missachtet.«
»Er ist hier, weil jemand hier sein muss.«
»Nein, er ist hier, weil er hier sein wollte.« Sie fixierte mich.
»Und weil Sie hier sind. Das ist der wahre Grund, nicht wahr, Dr. Scarpetta? Marino ist ihr ganz persönlicher Detective. Seit Jahren.«
Ihre Augen bohrten sich bis zu Stellen, die nicht einmal ich sehen konnte, und sie schien sich einen Weg durch heilige Teile meines Körpers zu bahnen und die Bedeutung der vielen Mauern in mir zu erahnen. Sie musterte mein Gesicht, meinen Körper, und ich war mir nicht sicher, ob sie sich mit
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