Blinder Passagier
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»Das ist ja Wahnsinn!«, rief ich. Mein Magen fühlte sich an wie eine geballte Faust. »Wenn ich so wäre, würde ich nicht verdienen, diese Arbeit zu tun. Wenn ich je so werde, sollte ich kündigen!
Warum sollte ausgerechnet mir der Verlust anderer Menschen gleichgültig sein? Wie könnte ich ihn nicht nachempfinden und verstehen und alles in meiner Macht Stehende tun, um ihre Fragen zu beantworten und ihren Schmerz zu lindern? Und dafür zu kämpfen, dass der Dreckskerl, der ihnen das angetan hat, auf den elektrischen Stuhl kommt?« Ich war den Tränen nahe. Meine Stimme zitterte. »Oder die Todesspritze kriegt. Scheiße, vielleicht sollten wir die Arschlöcher wieder öffentlich hängen.«
Fielding blickte zur geschlossenen Tür hinüber, als befürchtete er, man würde mich hören. Ich holte tief Luft und riss mich am Riemen.
»Wie oft ist das vorgekommen?«, fragte ich ihn. »Wie oft haben Sie solche Gespräche für mich übernommen.«
»In letzter Zeit eine ganze Menge«, gab er widerstrebend zu.
»Wie viele sind eine ganze Menge?«
»Wahrscheinlich in jedem zweiten Fall, den Sie in den letzten beiden Monaten bearbeitet haben.«
»Das kann nicht sein«, entgegnete ich.
Er schwieg, und während ich darüber nachdachte, beschlichen mich Zweifel. In letzter Zeit schienen nicht mehr so viele Angehörige anzurufen wie früher, aber ich hatte nicht darauf geachtet, denn es gab kein immer wiederkehrendes Muster und keine präzisen Vorhersagen. Manche Verwandte wollten jedes Detail wissen, andere riefen an, um ihrer Wut Luft zu machen. Wieder andere verdrängten und wollten gar nichts wissen.
»Dann muss ich wohl auch annehmen, dass sich manche über mich beschwert haben«, sagte ich. »Trauernde, verwirrte Menschen, die jetzt glauben, dass ich arrogant und kaltblütig bin.
Und ich kann es ihnen nicht übel nehmen.« »Ein paar haben sich beschwert.«
Seinem Gesicht sah ich an, dass es mehr als nur ein paar gewesen waren. Ich zweifelte auch nicht daran, dass sich manche schriftlich an den Gouverneur gewandt hatten.
»Wer hat Ihnen diese Anrufe durchgestellt?«, fragte ich betont sachlich und ruhig, weil ich Angst hatte, tobend wie ein Tornado durch den Flur zu rasen und alle zu verfluchen, die mir begegneten.
»Dr. Scarpetta, es schien mir nicht so ungewöhnlich, dass Sie zur Zeit über manche Dinge mit traumatisierten Menschen nicht sprechen wollten«, versuchte er es mir zu erklären. »Schmerzhafte Dinge, die Sie vielleicht erinnern könnten an . so habe ich es gesehen. Die meisten von diesen Leuten wollen nur eine Stimme hören, einen Arzt, und wenn ich nicht da war, dann haben Jill oder Bennett mit ihnen geredet«, sagte er und bezog sich dabei auf zwei meiner Ärzte. »Ein Problem war es vermutlich nur, wenn niemand von uns da war, und die Anrufe zu Dan oder Amy durchgestellt wurden.«
Dan Chong und Amy Forbes waren Medizinstudenten, die hier ein Praktikum absolvierten. Nie im Leben hätten sie mit Angehörigen sprechen dürfen.
»Oh nein«, sagte ich und schloss angesichts dieses alptraumhaften Gedankens die Augen.
»Vor allem nach Dienstschluss. Wenn sie Telefondienst hatten«, sagte er.
»Wer hat die Anrufe zu Ihnen durchgestellt?«, fragte ich ihn noch einmal, diesmal bestimmter.
Fielding seufzte. Er blickte so grimmig und besorgt drein, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Sagen Sie es mir«, beharrte ich.
»Rose«, sagte er.
15
Rose knöpfte ihren Mantel zu und schlang einen langen Seidenschal um ihren Hals, als ich kurz vor sechs ihr Büro betrat. Wie üblich hatte sie lange gearbeitet. Manchmal musste ich sie am Ende des Tages zwingen, nach Hause zu gehen, was mich in der Vergangenheit beeindruckt und gerührt hatte, jetzt aber etwas beunruhigte.
»Ich bringe Sie bis zu Ihrem Wagen«, sagte ich.
»Oh«, sagte sie. »Das müssen Sie aber nicht.«
Ihre Züge spannten sich an, ihre Finger fummelten an ihren Ziegenlederhandschuhen herum. Sie wusste, dass ich etwas auf dem Herzen hatte, was sie nicht hören wollte, und ich vermutete, dass sie ganz genau wusste, worum es sich handelte. Wir sprachen kaum auf dem Weg zur Rezeption, unsere Schritte nahezu lautlos, das Unbehagen zwischen uns mit Händen greifbar.
Mein Herz war schwer. Ich war mir nicht sicher, ob ich wütend oder zerknirscht war, und ich fragte mich mittlerweile alle möglichen Dinge. Was hatte Rose mir noch vorenthalten, und seit wann ging das so? War ihre unerschütterliche Loyalität ein Besitzdenken, das
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