Blinder Passagier
ihrer Wohnung und weinte.
»Rose, hören Sie auf, das zu sagen«, sagte Marino.
Rose hatte Kim Luong gekannt, weil sie oft im Quik Cary einkaufte. Rose war auch gestern dort gewesen, wahrscheinlich zur selben Zeit, als der Mörder im Lagerraum auf sie einschlug, sie biss und Blut verschmierte. Gott sei Dank war der Laden geschlossen und abgesperrt gewesen.
Ich trug zwei Tassen Ginsengtee in ihr Wohnzimmer, Marino trank Kaffee. Rose zitterte am ganzen Körper, ihr Gesicht war vom Weinen verquollen, und graue Haarsträhnen hingen über dem Kragen ihres Bademantels. Sie sah aus wie eine vernachlässigte alte Frau in einem Pflegeheim.
»Der Fernseher war ausgeschaltet. Ich habe gelesen. Deswegen habe ich nichts davon gewusst, bis ich heute Morgen Nachrichten hörte.« Sie erzählte uns mit anderen Worten immer wieder die gleiche Geschichte. »Ich hatte keine Ahnung, ich habe im Bett gelesen und über die Probleme im Büro nachgedacht. Vor allem über Chuck. Ich glaube, der Junge ist ein falscher Fuffziger, und ich will es beweisen.«
Ich stellte ihre Tasse ab.
»Rose«, sagte Marino. »Wir können ein andermal über Chuck reden. Jetzt müssen Sie uns sagen, was genau gestern passiert ist -«
»Aber Sie müssen mich zuerst anhören!«, rief sie. »Und Captain Marino, Sie müssen dafür sorgen, dass Dr. Scarpetta zuhört! Der Junge hasst sie! Er hasst uns alle drei. Sie müssen alles tun, um ihn loszuwerden, bevor es zu spät ist.«
»Ich werde mich um ihn kümmern, sobald -«, setzte ich an.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Er ist der Teufel. Ich glaube, er oder jemand anders, der mit ihm zu tun hat, hat mich verfolgt«, behauptete sie. »Vielleicht war er auch auf meinem Parkplatz in dem Auto, das Sie gesehen haben, und vielleicht hat er auch Sie verfolgt. Woher wollen Sie wissen, dass er das Auto nicht unter anderem Namen gemietet hat, damit er seinen Wagen nicht benutzen musste und nicht erkannt wurde? Woher wissen Sie, dass es nicht jemand war, den er angestiftet hat?«
»Moment, Moment, Moment«, schaltete sich Marino ein und hob die Hand. »Warum sollte er jemanden verfolgen?«
»Drogen«, sagte sie, als wäre sie sich hundertprozentig sicher.
»Am vergangenen Montag kam ein Überdosis-Fall rein, und zufällig hatte ich beschlossen, eineinhalb Stunden früher ins Büro zu gehen, weil ich eine längere Mittagspause nehmen und zum Friseur gehen wollte.«
Ich glaubte nicht, dass Rose zufällig früher gekommen war. Ich hatte sie gebeten, mir dabei zu helfen, herauszufinden, was Chuck im Schilde führte, und selbstverständlich hatte sie meinen Wunsch zu ihrer Mission gemacht.
»Sie waren an diesem Tag nicht da«, fuhr sie fort. »Und Sie hatten Ihren Terminkalender verlegt, und wir haben ihn nirgendwo gefunden. Am Montag war ich davon besessen, ihn zu finden.
Weil ich wusste, wie sehr Sie ihn brauchen. Ich dachte, ich sehe noch einmal im Leichenschauhaus nach.
Und ich ging ins Leichenschauhaus, noch bevor ich meinen Mantel ausgezogen hatte. Und dort ist Chuck. Um viertel vor sieben morgens sitzt er an einem Tisch mit einem Pillenzähler und Dutzenden von Fläschchen. Er sah aus, als hätte ich ihn mit heruntergezogener Hose erwischt. Ich fragte ihn, warum er so früh schon anfange, und er sagte, dass ihm ein arbeitsreicher Tag bevorstehe und er vorarbeiten wolle.«
»Stand sein Wagen auf dem Parkplatz?«, fragte Marino.
»Er parkt auf dem Deck«, erklärte ich. »Sein Auto ist vom Haus aus nicht zu sehen.«
»Die Drogen stammten von Dr. Fieldings Fall«, erzählte Rose weiter, »und aus Neugier habe ich mir seinen Bericht angesehen. Die Frau hatte alle möglichen Drogen dabei. Tranquilizer, Antidepressiva, Betäubungsmittel. Insgesamt eintausenddreihundert Tabletten, falls Sie sich das vorstellen können.«
»Das kann ich leider«, sagte ich.
Überdosis- und Selbstmordfälle wurden bei uns mit Mengen an verschreibungspflichtigen Medikamenten eingeliefert, die monate-, manchmal jahrelang gereicht hätten. Kodein, Parace-tamol, Morphium, Methadon, PDC, Valium und Fentanyl-Pflaster, um nur ein paar zu nennen. Es war eine unerträglich öde Aufgabe, die Tabletten zu zählen, um festzustellen, wie viele in den Fläschchen hätten sein sollen und wie viele tatsächlich noch übrig waren.
»Er klaut also die Tabletten, statt sie in den Abfluss zu werfen«, sagte Marino.
»Ich kann es nicht beweisen«, erwiderte Rose. »Aber am Montag ging es nicht so schlimm zu wie sonst. Die Überdosis war der einzige
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