Blinder Rausch - Thriller
an den Schläfen bereits graue Stähnen eingeschlichen hatten. »Hit-ze-frei, Hit-ze-frei!«, riefen einige Sechstklässler. Sie hatten sich untergehakt und spielten Demonstration. Leider war ihr Ruf nicht gehört worden und die Schulleitung hatte vor der Pause die ersehnte Nachricht nicht am Infobrett ausgehängt. Auch Frau Landmann hätte nichts dagegen gehabt, heute früher nach Hause gehen zu können. Zwei Stunden in der Klasse 10c trennten sie noch vom ersehnten Wochenende. Ausgerechnet die unruhige 10c in den letzten beiden Stunden vor dem Wochenende zu unterrichten und das bei dieser Hitze! Am Hofeingang erkannte sie ihren Kollegen Wolters, den Klassenlehrer der 10c. Er war gerade von draußen hereingekommen, vermutlich weil er eine Zigarette geraucht hatte. Frau Landmann ging auf den Kollegen zu. Er wirkte müde und fahrig. »Was ist?«, zischte er sie an.
»Nicht gleich so heftig! Ich wollte nur kurz etwas mit Ihnen besprechen!«
»Muss das sein, ausgerechnet jetzt?«, fuhr er sie an.
»Ich hatte sie im Laufe der Woche mehrmals in den Pausen gesucht, aber da sind Sie ja immer draußen!«, erklärte sie nicht ohne leichten Vorwurf in der Stimme.
»Ja, also, was ist?«, fragte er ungeduldig und fügte dann noch hinzu: »Sicher wollen Sie sich wieder über meine Klasse beschweren!« Frau Landmann verzog das Gesicht zu einem sarkastischen Lächeln: »Nein, diesmal nicht, außer dass ich sagen muss, dass sie wie immer sind. Unruhig, unpünktlich und respektlos.«
»Bei mir nicht, Frau Kollegin!«, erklärte er mit einem überlegenen Lächeln, das Frau Landmann zur Gegenoffensive provozierte. »Wenn man selbst noch später als die Schüler kommt und nicht mehr weiß, was man im Unterricht eigentlich vorhatte, fällt das eben nicht auf!«
Herr Wolters war rot angelaufen. »Mäßigen Sie sich! Wenn Sie mich weiterhin so angreifen, werde ich mich beim Personalrat über Sie beschweren!«
»Entschuldigen Sie, Herr Wolters, das ist mir eben so herausgerutscht, aber es lag auch daran, weil Sie mich gleich so unwirsch …« Mehr konnte Frau Landmann nicht mehr sagen. Herr Wolters hatte abgewinkt und war wütend schnurstracks Richtung Ausgang verschwunden. Jetzt braucht er noch eine Zigarette oder gar etwas anderes, dachte sie zerknirscht. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie Herr Wolters vor 15 Jahren an dieser Schule angefangen hatte. Jung, ehrgeizig, beliebt bei den Schülern. Davon war nichts mehr übrig geblieben. Warum nur? Ein Schüler schreckte sie aus ihren Gedanken. »Haben Sie gerade mit Herrn Wolters wegen mir gesprochen?«, fragte er. Frau Landmann musterte den Schüler eingehend. Es war Benjamin Zinser aus ihrer Klasse 9f. Er trug seit einer Woche dasselbe mit wolkigen grauen Flecken durchsetzte schwarze T-Shirt und eine weite schwarze Stoffhose. Die Kleider umflatterten seine dürre Gestalt wie ein Federkleid. Seine sonst dunkelblonden Haare, klebten schwarz und fettig wie ein Helm auf seinem Kopf. Mit seiner spitzen, kräftigen Nase wirkte der Junge auf Frau Landmann wie eine zerzauste Krähe. Trug er ständig diese schwarze Kleidung aus Nachlässigkeit, weil er keine Lust hatte, eine Auswahl aus einem Kleiderschrank zu treffen, oder gehörte das zu Benjamins Kult? Seine Haut war trotz des sonnenreichen Sommers weiß und von durchschimmernden Adern durchzogen. In seinem knochigen, eingefallenen Gesicht leuchteten die rissigen Lippen in entzündeten Mundwinkeln blutrot auf. »Hast du wieder die ganze Nacht am Bildschirm verbracht?«, fragte sie ihn. Die dunklen Augen des Jungen blieben unter den dichten Wimpern undurchdringlich. Er schüttelte angedeutet den Kopf. Eigentlich könnte er ein hübscher Junge sein, dachte die Lehrerin. Er hat ein Engelsgesicht mit feinen, intelligenten Zügen.
»Du brauchst Hilfe!«, sagte sie. »Ich meine …« Er unterbrach sie sofort: »Ich habe doch gesagt, was meine Hilfe wäre. Ich will endlich raus aus der 9f! Ich halte das nicht mehr aus!« Seine Lippen verzogen sich weinerlich. »Die Schulleitung hat längst den Antrag von meinen Eltern.« Frau Landmann nickte mitfühlend. Benjamins Eltern hatten bereits vor den Sommerferien den Antrag gestellt, dass ihr Sohn aufgrund seiner Hochbegabung eine Klasse überspringen sollte. Die Eltern berichteten, Benjamin werde in der 9f gemobbt, weil er sehr viel weiter sei und sehr viel mehr wisse als seine Mitschüler. Lange hatte die Klassenkonferenz vor den Ferien mit dem Schulleiter über den Antrag diskutiert. Frau
Weitere Kostenlose Bücher