Blinder Rausch - Thriller
Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
Sie fuhr erschreckt zusammen, als zwei Kinderarme sich von hinten um ihren Hals schlangen. »Mona! Lass das!«, fauchte Leonie und entwand sich aus der Umarmung.
»Was hast du denn?«, flüsterte Mona kleinlaut.
»Nichts!«, schluchzte Leonie.
»Leo weint«, hörte man Tobis zaghaftes Stimmchen von der Tür her.
»Haut ab und lasst mich endlich in Ruhe!«, schrie Leonie. Und als keine Bewegung in die erschreckten Kinder kam, setzte sie nach: »Los, wird’s bald?«
Da verschwanden die beiden endlich und zogen die Tür hinter sich zu. Leonie wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute auf den Bildschirm. Dort stand immer noch Olivers Frage. Sie antwortete: »Klar bin ich eingeladen!« Dann klappte sie das Laptop zu und sprang auf.
Sie hielt es in der Enge der Wohnung mit den Plapperstimmchen der beiden Geschwister nicht mehr aus und rief Mona zu: »Spiel mit Tobi ein bisschen Playmobil! Wenn was ist, ich bin unten im Hof!« Leonie rannte die Stufen durch das kühle und muffige Halbdämmer des Treppenhauses hinunter. Papa und Mama würden nicht begeistert sein, dass sie die Geschwister allein in der Wohnung ließ. Aber sie mussten das verstehen, es ging jetzt einfach nicht anders.
Als sie die Hoftür hinter sich zuzog, schlug ihr die Hitze des Nachmittags entgegen, die sich in der Schlucht des Häuserkarrees gefangen hatte. Sie blinzelte in das gleißende Licht und erkannte erst allmählich das Innere des Hofes. In der Mitte stand ein mächtiger Kastanienbaum, dessen Äste man im Frühjahr stark zurückgeschnitten hatte, sodass seine Krone nur noch wenig Schatten gab. Rund um den Hof verlief eine unverputzte Ziegelmauer, welche die Grenze zu den Höfen der Nachbarhäuser bildete. In der rechten Ecke vor der Mauer befand sich eine kleine Buddelkiste, in der die bunten Reste verblichener Sandspielzeuge verteilt lagen. Daneben gab es ein eisernes Schaukelgestell mit einem Schaukelbrett, das schief an einer Kette hing. Wie lange war sie nicht mehr im Hof gewesen? Mit den Geschwistern ging sie in der Regel auf den Spielplatz im Park. Wie lange hatte sie nicht mehr geschaukelt!
Sie löste die Schaukel und hängte die Kette richtig ein, sodass das Brett einigermaßen waagrecht hing. Dann setzte sie sich, griff in die Ketten, gab sich Schwung und schloss die Augen. Die Sonne glühte rot und warm durch die Lider. Der Fahrtwind kühlte das nasse Gesicht. Schaukeln, nur noch schaukeln und an nichts mehr denken! Doch das klappte nicht. Im Rhythmus der Bewegungen hämmerte es ihr durch den Kopf. Er gibt – ein Fest. Du bist – nicht dabei. Denise ist – dabei. Denise wird – ihn kriegen. Leo – nicht. Leonie versuchte sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie roch die moderige Erde des Hofes, den bitterlichen Friedhofsgeruch eines Buchsbaums, der neben der Eingangstür in einem großen Topf stand. Wieder stiegen Tränen in ihr auf. Sie fühlte sich so entsetzlich alleingelassen, aber nicht leer, sondern voll nagender Sehnsucht. Was war das für ein Scheißleben, wenn man einen solchen Frust schieben musste? Und warum nur sie? Allen anderen ging es gut, nur ihr nicht. Warum?
Im Parterre hörte sie die Hofmeister mit ihrem schwerhörigen Mann zetern. Im ersten Stock kläffte der nervige Köter von der Warnecke. Im zweiten und dritten Stock war es ruhig. Irgendwo nebenan klapperte jemand am geöffneten Fenster mit Geschirr. Schaukeln. Schaukeln. Nichts mehr denken müssen. Sich auflösen in diesem roten inneren Licht und dem Wirrwarr der Geräusche.
Plötzlich mischte sich ein neuer Ton dazwischen. Es war das Scheppern der Hoftür, wenn sie von innen aufgezogen wurde und beim vollständigen Öffnen über die unebenen Fliesen des Hausflurs schabte. Sand knirschte auf den Platten. Das Glas der Türfüllung vibrierte, nachdem die Tür mit einem dumpfen Schlag gegen die Flurwand geschlagen war. Da hatte jemand anscheinend zu viel Kraft oder zu viel Wut und ließ das an der unschuldigen Tür aus.
Leonie hielt die Lider geschlossen. Inzwischen hatte sie Spaß daran gefunden, aus dem Chor der Geräusche rundherum ein Ratespiel zu machen. Wer kam da jetzt wohl gerade auf den Hof? Wer hatte Grund dazu? Jemand, der Wäsche aufhängen wollte? Sofort entstand in ihr die Erinnerung an die zeternde Stimme der Hofmeister, die sich drohend aus ihrem Küchenfenster lehnte. »Auf dem Hof wird nicht gespielt. Da hängt doch Wäsche!«
Grinsend dachte Leonie an das Erlebnis, als Niklas mit
Weitere Kostenlose Bücher