Blindwütig: Roman
unsanft erwachten Penny. So, wie wir nun dalagen, bot uns das auf der Seite liegende Sofa Deckung vor dem Schützen.
»Gewehrschüsse«, sagte ich. Noch während mir der zweite Teil des Worts über die Lippen kam, hatte Penny schon einen klaren Blick und einen ebenso klaren Kopf.
Als ich zu Milo hinübersah, der kaum vier Meter von uns entfernt an seinem Tisch gesessen hatte, sah ich ihn auf die Seite fallen. Im ersten Moment dachte ich, er sei getroffen worden, aber da kein Blut spritzte, stimmte das wohl nicht.
Milo war kaum in Deckung gegangen, als ein zweites Pock zu hören war. Einen Sekundenbruchteil später folgte ein lauter Schlag. Der Laptop auf dem Couchtisch flog in Stücke.
27
Ich weiß nicht mehr, ob ich schnaufte wie ein Marathonläufer oder ob ich kaum in der Lage war, Luft zu holen; und ich weiß auch nicht mehr, ob der Anblick von Milo in Todesgefahr meine Sinne schärfte oder stumpfer werden ließ. Allerdings erinnere ich mich noch, dass ich zwar Angst hatte, sie jedoch weniger intensiv empfand als eine andere Emotion, die man Entsetzen hätte nennen können. Dieses Entsetzen darüber, dass Milo getötet werden könnte, war gepaart mit einer brennenden Verzweiflung, die selbst einen vorsichtigen Menschen wie mich leichtsinnig machen konnte. Diesem Drang, lieber falsch zu handeln als überhaupt nicht, durfte ich auf keinen Fall nachgeben, aber obwohl mir das klar war, musste ich mich mit ganzer Kraft zwingen, stillzuhalten und nachzudenken .
Wir befanden uns im Erdgeschoss, weshalb der Schütze keinen erhöhten Standort einnehmen musste, um uns unter Beschuss zu nehmen. Er konnte auf der Terrasse lauern, auf dem Privatsteg, auf dem Uferdamm oder auf dem Oberdeck eines der Boote, die im Wasser lagen.
Flach auf dem Boden liegend, bot Milo zwar nicht viel Angriffsfläche, aber er blieb ein äußerst verwundbares Ziel.
Seine Augen waren zugekniffen, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Vielleicht versuchte er gerade mit aller Macht, den Schützen fortzuwünschen. In diesem Augenblick hatte er körperlich, emotional und intellektuell kein unterschiedliches Alter. Unser gescheiter, kleiner Milo war voll und ganz sechs Jahre alt und hatte furchtbare Angst.
Lassie war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie sich wieder in den Schrank zurückgezogen.
Auf der Terrasse standen keinerlei Gartenmöbel. Die einzige Barriere zwischen dem Angreifer und den Fenstern bildeten die schlanken Stämme von vier Königinpalmen.
Wenn Milo hinter einem Möbelstück Schutz suchte, so war er schwerer zu treffen. In Sicherheit war er dann jedoch trotzdem nicht.
Dasselbe galt auch für Penny und mich. Die Deckung, die uns das umgekippte Sofa bot, beruhigte mich keineswegs.
Schließlich wusste der Schütze, wo wir uns versteckten. Ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss würde das Polster nicht aufhalten, ja nicht einmal erheblich verlangsamen. Wenn der Angreifer auf Schnellfeuer umstellte und die ihm zugewandte Unterseite des Sofas aufs Korn nahm, dann wurde bestimmt einer von uns getroffen, vielleicht auch wir beide.
Auf das Pock des dritten Schusses folgte das Geräusch von splitterndem Holz. Wenige Zentimeter über unserem flach auf dem Teppichboden liegenden Sohn war das Geschoss in den Couchtisch eingeschlagen. Splitter regneten auf Milos Kopf und Rücken herab.
Penny bedachte den Angreifer mit einem Fluch und robbte los, auf Milo zu.
»Bleib in Deckung!«, zischte ich und packte sie am Knöchel. Strampelnd versuchte sie sich loszureißen, aber ich hielt sie verzweifelt fest, um einen Moment zum Nachdenken zu gewinnen.
Auch ich wollte zu Milo hin, um ihn in Sicherheit zu bringen, aber wenn Penny und ich getötet wurden, dann hatte Milo eine noch geringere Überlebenschance als jetzt.
Wenn er hingegen selber loskroch und sich dabei dicht am Boden hielt, konnte er erst hinter den Möbeln in seiner Nähe
Deckung suchen und sich von dort aus auf den Flur zubewegen.
Um ihn dazu aufzufordern, musste ich ihn erst einmal auf mich aufmerksam machen. Ihm einfach etwas zurufen wollte ich jedoch nicht. Da er ohnehin schon extrem verängstigt war, wäre er dann womöglich aufgeschreckt und hätte den Kopf gehoben.
Plötzlich tauchte von irgendwoher Lassie auf, lief zu dem Jungen und stellte sich über ihn. Selbst solche Umstände entlockten ihr kein Gebell; dafür begann sie, ihrem jungen Herrn das linke Ohr zu lecken.
Milo öffnete die Augen, sah sie und hob die Arme, um sie aus der Schusslinie zu
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