Blitz: Die Chroniken von Hara 2
»Danke, dass du mir von ihnen erzählt hast. Das meine ich vollkommen ernst. Es kommt mir vor, als hätte ich viele Dinge erst jetzt begriffen.«
»Mir ist es genauso ergangen«, sagte Lahen und fasste mich fest bei der Hand. »Man kann immer alles in der Weise darstellen, die einem beliebt. Doch bei allem, was diese Menschen angerichtet haben … sie verdienen es nicht, dass man sich nur als grausame Mörder und Mörderinnen an sie erinnert. In vielen Dingen sind die Schreitenden nämlich keinen Deut besser als sie.«
»Was meinst du, warum sind die Verdammten jetzt zurückgekommen? Nach all den Jahren?«
»Um ihr Werk zu vollenden, nehme ich an. Um den Turm und die Schreitenden zu vernichten und eine neue Magie zu schaffen. Und wohl auch, um in ihr altes Land zurückzukehren. Bragun-San dürfte ihnen eine Lehre gewesen sein. Sie haben abgewartet, bis sie mit keinem ernsthaften Widerstand mehr rechnen mussten. Der Turm hat derart viel vergessen, dass er diesen Sechs kaum noch etwas entgegenzusetzen hat. Die Fehler von einst werden heute seinen Untergang bedeuten.«
»Würden die Verdammten wirklich Tausende von Menschen umbringen, nur um eine neue Form der Magie durchzusetzen?«
»Aber selbstverständlich!«, schnaubte Lahen. »Die Magie ist das kostbarste Gut auf Erden für sie. Wenn sie jetzt nichts unternehmen, wird es bald für immer zu spät sein, das wissen sie genau. Jede neue Generation zeigt einen schwächeren Funken. Irgendwann wird er ganz verlöschen. Und dann verliert unsere Welt unwiderruflich jede Form von Magie. Dann wird es niemanden mehr geben, den man noch ausbilden könnte. So betrachtet, haben sich diese Sechs also ein hehres Ziel gesteckt. Der Preis Tausender von Menschenleben wird sie nicht davon abhalten, alles daranzusetzen, es zu erreichen.«
Jetzt wäre es an mir gewesen zu schnauben. Die waren doch krank! Völlig verrückt mit ihrer Magie! Millionen von Menschen leben ohne den Funken und sind damit glücklich und zufrieden. Aber, wie gesagt: es
wäre.
Denn Lahen konnte ohne Magie eben nicht leben.
»Werden die uns nicht allmählich suchen?«, fragte ich und sah zum Fenster hinaus. Dem Stand der Sonne nach hatten wir hier bestimmt schon mehr als eine Stunde zugebracht. »Lass uns wieder auf unser Zimmer gehen.«
»Du hast recht«, sagte sie und warf einen letzten Blick auf das Portrait von Ghinorha. Dann ließ sie meine Hand los und ging zu dem kleinen Tisch, auf dem der Handschuh lag. »Aber vorher möchte ich, dass du noch etwas erfährst. Nachdem Ghinorha gestorben und ich auf mich allein gestellt war, habe ich meinem Heimatdorf einen letzten Besuch abgestattet … Ich hatte nichts vergessen und nichts verziehen … Sie haben ihre Strafe bekommen, selbst wenn die meisten nicht einmal verstanden, wofür sie bezahlen mussten. Mein neues Leben begann mit dem Tod. Dafür werde
ich
wohl eines Tages bezahlen müssen. Und ich fürchte, dieser Tag rückt immer näher.«
»Ich würde nie zulassen, dass dir etwas geschieht.«
»Das dürfte wohl kaum in deiner Macht liegen. In meiner übrigens auch nicht … Hier ist es kalt. Gehen wir.«
Während ich Lahen durch den Saal der Mütter folgte, wurde mir einmal mehr bewusst, dass ich sie mehr liebte als mein eigenes Leben. Ich würde alles dafür tun, dass ihr niemals etwas geschah.
Und sei es, dass ich dafür meine Seele dem Reich der Tiefe überantwortete.
Kapitel
8
»Was ist, mein Kleiner? Ist der reiche Onkel gestorben, sodass du jetzt sein Erbe antrittst?«, fragte ich Shen mit finsterer Miene, als dieser strahlend wie ein frisch geprägter Soren unser Zimmer betrat.
»Du bist ja wieder ganz der Alte!«, erwiderte Shen, behielt sein Lächeln aber bei. Offenbar konnte ihm heute nichts die Laune verderben. »Ich freue mich einfach, euch zu sehen.«
»Mir kommen gleich die Tränen«, knurrte ich. »Was willst du?«
»Die Ratssitzung ist gerade zu Ende gegangen. Er hat ein Urteil in eurer Angelegenheit gefällt.«
Obwohl mir das Herz stockte, ließ ich mir äußerlich nichts anmerken. »Dann ist mir deine Freude natürlich durchaus verständlich. Was ist, sollst du uns auf der Stelle zum Henker führen?«
»Warum bist du eigentlich so schlecht auf mich zu sprechen?«, fragte er ehrlich erstaunt.
»Wenn ich auf jemanden schlecht zu sprechen bin, dann auf mich. Weil ich dir nicht das Licht ausgeblasen habe, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Das tut mir heute noch leid.«
»Wenn du es noch einmal versuchen willst, bitte, tu
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