Blitz: Die Chroniken von Hara 2
mehr die einfachsten Bücher aus der Vergangenheit verstehen. Von anderen Schätzen, die im Turm aufbewahrt werden, ganz zu schweigen. Diese Dummköpfe zeigen sich außerstande, einen Heiler auszubilden. Da haben sie nach dem Skulptor erstmals wieder einen Mann, der diesen Aspekt der Gabe in sich trägt – und sie können ihm nicht einmal beibringen, seinen Funken zuverlässig zu kontrollieren! Nichtsnutze seid ihr, alle miteinander! Die es nicht schaffen, über die eigene Nasenspitze hinauszublicken! Man hätte euch längst in Asche verwandeln sollen, damit euch der Wind davonträgt! Oder euch Rowan überlassen sollen, damit der sich mit euch vergnügt. O ja, er weiß genau, wie er Menschen klarzumachen hat, dass sie keine Götter, sondern nichts als Staub sind. Komm mir also nicht mit dem Turm, mein Junge. Es sei denn, du willst mich mit amüsanten Bemerkungen erheitern.«
In dieser Sekunde erklangen von draußen kurze, schmerzdurchtränkte Schreie herein. Etwas schmatzte und quietschte, dann trat beklemmende Stille ein.
»Na, was habe ich gesagt?«, frohlockte Thia. »Esmira hat diese beiden mühelos ausgeschaltet.«
»Die Mutter …«
»Deine heißgeliebte Mutter wird gar nichts unternehmen. Die hat nämlich genug andere Sorgen. Und in zehn Minuten kommen noch weitere hinzu.«
»Nein!«, brachte Shen verzweifelt heraus. »Sie wird euch alle töten!«
»Kann schon sein, dass einige von uns ins Reich der Tiefe eingehen«, stimmte ihm Thia unumwunden zu. »Irgendwer stirbt schließlich immer. Aber vorher werden wir noch unser Werk vollbringen. Dazu haben wir alle zu lange auf diese Stunde gewartet. Steh auf!«
Erst jetzt bemerkte Shen, dass er sich wieder bewegen konnte. Allerdings fuhr ihm ein stechender Schmerz in die tauben Arme und Beine. Verzweifelt presste er die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen.
»Weshalb sollte ich?«, knurrte er.
»Ich brauche deine Gabe, mein Freund. Deine wunderbare, einmalige Gabe. Und die wirst du mir leihen, denn das schuldest du mir, nachdem du mich so zugerichtet hast. Du schenkst mir einen akzeptablen Körper. Als Zeichen des guten Willens lasse ich dich dafür am Leben«, erklärte sie, worauf Shen in schallendes Gelächter ausbrach. »Was belustigt dich so?«
»Vergiss es, Typhus!«, antwortete er. »Ich kann dir diesen Traum nicht erfüllen. Und zwar nicht, weil ich nicht will, sondern weil es schlicht und ergreifend mein Können übersteigt.«
»Das weiß ich«, erwiderte Thia. »Aber da wäre immer noch die Verdammte Lepra. Sie ist dazu in der Lage. Und mit deiner … unmaßgeblichen Hilfe wird sie mir einen neuen Körper geben. Uns steht also noch eine lange Reise bevor. Fürs Erste sei aber so gut und schwing dich auf den Flatterer der Tiefe. Und schlag dir bitte alle Flausen aus dem Kopf. Geh einfach davon aus, dass dir jede Form von Widerstand äußerst schlecht bekäme. Du wirst mir so oder so zu Willen sein, die Frage ist lediglich, wie schmerzhaft es sich für dich gestaltet.«
In der Tat zweifelte Shen keine Sekunde daran, dass er sich um jede Aussicht brächte, seine Freiheit zurückzuerlangen, wenn er sich jetzt stur stellte. In dem Fall würde ihm Typhus kurzerhand wieder Fesseln anlegen und ihm damit noch die kleinste Fluchtmöglichkeit nehmen. Deshalb hielt er es für geboten, ihrem Befehl Folge zu leisten.
Der knochige Rücken des Flatterers strahlte eine überraschende Wärme, ja sogar Hitze aus. Als brennte in seinem Innern ein Feuer. Vorsichtig streckte Shen die Hände beim Aufsitzen nach den spitzen Wirbeln aus, die aus dem Fleisch hervorstaken und wie glänzend polierte hölzerne Türklinken wirkten. Schon im nächsten Moment klebte er mit Armen und Beinen an dem Wesen fest.
»Das verhindert, dass du während des Ritts abstürzt. Oder fliehst«, ließ sich Thia zu einer Erklärung herab. »Und jetzt lass uns aufbrechen. Ich möchte nämlich nicht in der Nähe sein, wenn der Shoy-chash aus dem Ei schlüpft.«
Dann ging der Ritt los. Shen kam sich wie in einer Kapsel vor, aus der er sich immer mal wieder kurz zu befreien vermochte, um keuchend, da Atemnot ihm bereits die Lungen brennen ließ, nach Luft zu ringen. Gleich darauf presste es ihn jedoch wieder in das schwindelerregende Gewirr aus Bildern und Lauten hinein. Der Flatterer der Tiefe raste mit einer unglaublichen Schnelligkeit durch die Stadt. Häuser, Zäune, Schilder, Bäume und Menschen schossen nur so an ihnen vorbei. Seine sechs Beine, die in spitzen, beinernen Kämmen
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