Blitze des Bösen
lächerlich. Tausende, Hunderttausende
gingen gerne angeln. Sie kannte sogar einen Kollegen von der Times, der plötzlich mit Fliegenfischen angefangen hatte.
Wenn der das konnte, warum dann nicht auch Glen?
Ihre Gedanken schwirrten durcheinander, und plötzlich
erinnerte sie sich daran, wie Glen im Krankenhaus lag und
Kevin gebeten hatte, ihm die Akten über Richard Kraven zu
bringen.
Warum?
Glen hatte ihr immer vorgehalten, ihre Faszination für den
Serienmörder sei krankhaft; wieso war er dann selbst auf einmal so interessiert an ihm?
So interessiert, daß er sogar demselben Hobby nachgehen
wollte?
Sachte, sachte, Anne! sagte sie sich. Mach dich bloß nicht
verrückt! Egal, was Mark Blakemoor darüber denkt – Glen hat
sich nur ein neues Hobby zugelegt, genau wie der Arzt es ihm
empfohlen hatte. Aber dann huschte ihr ein Gedanke durch den
Kopf, der so absurd war, daß sie laut darüber lachen mußte.
Welchem von Kravens Hobbys wollte Glen nachgehen? Dem
Fliegenfischen oder dem Morden? Der ständige Lärm im
Redaktionsraum wurde von einer kurzen Stille unterbrochen,
denn alle, die in Annes Hörweite saßen, blickten auf. Das
Lachen erstarb ihr auf den Lippen, und Anne starrte auf den
Monitor, als wäre sie tief in das Schreiben einer Story
versunken.
Einen Augenblick später herrschte wieder das übliche
Stimmengewirr, und Anne dachte weiter nach. Und eine Idee
nahm Gestalt an, doch das ganze war noch zu verschwommen,
um es fassen und ordnen zu können.
Da gab es etwas, das sie vergessen hatte – etwas, das sie
einmal gewußt oder wovon sie gehört hatte.
Ein Gerücht?
Eine Theorie?
Es war irgendeine Information, die in ihren Akten oder in
den Tiefen ihrer Seele vergraben lag.
Sie wußte, daß es nur eine Möglichkeit gab, sie wiederzufinden: sämtliche Akten, alles, was sie je über Kraven
geschrieben hatte, durchzuforsten. Und das galt nicht nur für
die Stories, sondern für alle Aktennotizen – vom Wortlaut
jedes Interviews, das sie über ihn geführt hatte, bis zu den
kompletten Unterlagen über die Verhandlung und die eingelegten Berufungen. Dabei handelte es sich um Tausende von
Seiten…
Sie kämpfte gegen die Erschöpfung an, die sie zu überwältigen drohte und versuchte, der Tatsache ins Auge zu sehen,
all das noch einmal lesen zu müssen. Das würde Tage dauern,
vielleicht sogar Wochen, doch sie wußte, daß sie irgendwo in
den Unterlagen etwas finden würde – eine winzige Tatsache,
aus der sie einen Hinweis auf den Mörder von Rory Kraven
entnehmen konnte. Trotz allem, was Mark Blakemoor ihr
gezeigt und gesagt hatte, war sich Anne in einer Hinsicht noch
immer sicher.
Sie hatte sich in Richard Kraven nicht geirrt.
Er war ein Mörder gewesen. Aus diesem Grund war er verurteilt und hingerichtet worden.
Er war tot, und Anne glaubte nicht an Geister. Deshalb
mußte jemand, der noch lebte, ein schreckliches Spiel spielen.
Mit analytischer Schärfe dachte Anne nach. Ein Komplize.
Es mußte einen Komplizen gegeben haben, auch wenn Mark
gesagt hatte, Serienmörder schritten immer alleine zur Tat.
Schließlich war Kraven in keinerlei Hinsicht typisch gewesen.
Also gab es jemanden, der noch am Leben war. Jemand, den
Kraven in seine Geheimnisse eingeweiht hatte. Jemand, der
seine Handschrift perfekt imitieren konnte.
Das war immerhin denkbar.
Aber wer hätte so lange warten wollen, bis Kraven hingerichtet war, um danach seine eigene grausige Arbeit wieder
aufzunehmen, nur um aller Welt zu zeigen, daß Kraven in
Wahrheit unschuldig war?
Konnte irgend jemand einem Monster wie Kraven derart
ergeben sein?
Sie konnte sich das nicht vorstellen, aber es gab keine andere
Lösung. Und sollte dieser Mensch existieren, würde sie ihn
auch finden.
Vorausgesetzt, daß er sie nicht zuerst fand.
Richard Kravens letzte Worte schössen ihr wieder durch den
Kopf. »Eines bereue ich wirklich, Anne! Daß ich Ihnen beim
Sterben nicht genauso zuschauen kann, wie Sie mir!«
War es denkbar, daß er mit diesen Worten mehr gemeint
hatte, als das, was sie am Tag seiner Hinrichtung dachte? War
es denkbar, daß er damals bereits Vorbereitungen getroffen
hatte, sie umbringen zu lassen?
Schlagartig wurde ihr klar, daß es nur eine Möglichkeit
geben konnte, warum Rory Kravens Mörder gewußt hatte, daß
der Joyce Cottrell getötet hatte. Er mußte in jener Nacht
dabeigewesen sein – aber nicht weil er Joyces Haus beobachtet
hatte…
Er hatte ihr Haus beobachtet.
Eiskalte Furcht ließ
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