Blitze des Bösen
sie erstarren, als sie sich vorstellte,
jemand habe in dieser Nacht in der Dunkelheit draußen
gelauert.
Hatte er sie töten wollen? Oder ihre Familie?
Hatte er vorgehabt, während sie schliefen in ihr Haus einzudringen?
Und wo war er jetzt? Genau in diesem Moment?
Beobachtete er ihr Haus? Ihre Kinder?
Ihre Augen wanderten zur Uhr – es war schon viertel nach
drei! Wenn Heather noch nicht die Schule verlassen hatte,
könnte sie ihr sagen, daß sie nach Kevin suchen und bei ihm
bleiben sollte. Zusammen wären die Kinder sicherer, aber
wenn Kevin allein herumspazierte…
Von plötzlicher Panik ergriffen, nahm sie das Telefon ab und
rief in Heathers Schule an. Fünf Minuten später, die ihr wie
eine Ewigkeit vorkamen, war die stellvertretende Rektorin
wieder am Apparat.
»Es tut mir leid, Mrs. Jeffers«, sagte sie in dem Ton, in dem
sie stets mit Eltern sprach, die ihr unnötig besorgt vorkamen.
»Ich habe Ihre Tochter ausrufen lassen, doch sie hat nicht
geantwortet. Ich glaube, sie hat die Schule schon verlassen.
Kann ich Ihnen weiterhelfen? Oder jemand von den Lehrern?«
Anne zögerte. Sollte sie Mrs. Jones erzählen, daß sie
befürchtete, jemand habe es auf sie oder ihre Kinder abgesehen? Und wenn sie auf der völlig falschen Spur war? Sie wußte
es nicht; sie wußte überhaupt nichts mehr! »Ich… weiß
nicht…«, stammelte sie. »Ich glaube, das ist nicht nötig.«
Sie legte auf, wählte ihre eigene Nummer und fluchte leise,
als sie den Anrufbeantworter hörte. »Glen? Wenn du da bist,
nimm den Hörer ab. Ich bin’s, und ich sorge mich um die
Kinder. Wenn du nicht zu Hause bist, aber in den nächsten
Minuten heimkommst, dann nimm deinen Wagen und fahre zu
Kevins Schule. Es ist etwas passiert, und ich bin… Ach, Mist,
ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen. Tu’s bitte. Danke. Bis
später.«
Sie legte den Hörer auf, saß einen Moment lang still da und
wünschte, daß die in ihr aufsteigende Panik verschwände. Wo
war Glen? Warum war er nicht daheim? War ihm etwas
zugestoßen?
Hör schon auf damit! bremste sie sich. Reiß dich am Riemen.
Entweder du gehst logisch vor, oder du drehst völlig durch.
Sie mußte den Mann finden, der Rory Kraven ermordet
hatte. Sie mußte in den Unterlagen einen Hinweis auf diesen
Mörder entdecken. Es mußte jemanden geben, der Richard
Kraven so nahe stand, ihn derart verehrte, daß er ihn jetzt perfekt imitierte. Und ein solcher Mann mußte zwangsläufig auch
von irgend jemandem erwähnt worden sein.
Höchstwahrscheinlich hatte sie ihn sogar selbst interviewt,
und zwar zu der Zeit, als sie systematisch fast jeden Menschen
ausfindig gemacht hatte, dem Kraven jemals begegnet war. Ja,
es war nicht nur möglich, daß sie mit diesem namenlosen,
gesichtslosen Mann gesprochen hatte – es war fast unmöglich,
daß sie nicht mit ihm geredet hatte!
Ihre Erschöpfung war wie weggeblasen. Sie rief das Verzeichnis ab, in dem alle Interviews, die sie über Jahre hinweg
geführt hatte, aufgelistet waren, doch ihr Eifer ließ prompt
nach, als sie die Statistik las: Es waren 1326 Aktennotizen.
Schon die durchzusehen, würde Tage dauern.
Aber sie konnte die Sache abkürzen, denn es war nicht nötig,
die Interviews mit Freunden und Familienangehörigen der
Opfer zu überprüfen. Wesentlich wichtiger waren die
Gespräche mit Leuten, mit denen Kraven Umgang gehabt
hatte. Sie gab die entsprechenden Daten in den Computer ein –
und da blieben von den 1326 Gesprächsnotizen nur noch 127
übrig.
Anne öffnete die erste Akte und machte sich an die Arbeit.
Sie würde bestimmt etwas finden, früher oder später.
Aber wie viele Menschen würden bis dahin noch sterben?
Und wer?
54. Kapitel
Ein trüber Lichtpunkt, so schwach, daß er kaum zu sehen war,
begann langsam die Dunkelheit zu durchdringen, die Glen
Jeffers Bewußtsein verfinstert hatte. Er fühlte sich, als sei er
aus einem tiefen Schlaf erwacht und wünschte, daß es heller
und die Schwärze um ihn herum verschwinden würde.
Jetzt konnte er auch einen schwachen Ton hören: eine Art
hohes Schrillen. Das dunkle Loch in seinem Kopf wurde allmählich grau, und der Lichtpunkt verstärkte sich.
Auch der Ton wurde jetzt deutlicher.
War es ein Bohrer? Von einem Zahnarzt?
Glen versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, was geschehen
war. Er war zu Hause gewesen, hatte in der Küche Zeitung
gelesen. Das Telefon! Das war es – das Telefon hatte
geklingelt.
Gordy Farber. Gordy war drangewesen und
Weitere Kostenlose Bücher