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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Versäumnis, brauchbare neue Befestigungen zu bauen. Schlimmer noch, Schdanow und Woroschilow sei anzulasten, dass sie »ihre Pflicht nicht begriffen haben, die Stawka unverzüglich über die Maßnahmen zur Verteidigung Leningrads zu unterrichten, dass sie sich ständig vor dem Feind zurückziehen, nicht die Initiative ergreifen und keine Gegenangriffe organisieren. Die Leningrader geben ihre Fehler zu, aber das ist natürlich ganz und gar unbefriedigend.« 29 Stalins Entgegnung war knapp: »Antwort: Erstens, wer hält Mga in diesem Moment? Zweitens, lassen Sie sich von Kusnezow mitteilen, was für die Baltikflotte geplant ist. Drittens, wir wollen Chosin als Woroschilows Stellvertreter losschicken. Irgendwelche Einwände?« Als die Kommission nach Moskau zurückgekehrt war, habe Malenkow, laut Berijas Sohn, Stalin zu dem Schritt gedrängt, Schdanow verhaften und vor ein Kriegsgericht stellen zu lassen, doch Berija habe ihn davon abgebracht. 30 Stattdessen machte Stalin Malenkow zu seinem Weichensteller in Leningrad, der Schdanow die Wünsche des Generalsekretärs übermitteln sollte und umgekehrt. Dieses außergewöhnliche Arrangement, in dem der Leningrader Parteichef mit Stalin durch einen Vermittler sprach, der versucht hatte, ihn ermorden zu lassen (wie Schdanow zumindest geahnt haben dürfte), dauerte bis zum Ende des Krieges an.
    Schdanow wurde verschont, doch gewöhnliche Leningrader hatten weniger Glück. Während die Kämpfe außerhalb der Stadt hin und her wogten, erhöhten Molotow und Malenkow den Terror im Innern. In einem Verzeichnis, welches das Leningrader NKWD am 25. August aufstellte, wird ein Ziel von 2248 Verhaftungen und Ausweisungen genannt, deren Opfer sich in neunundzwanzig Kategorien teilen: von Trotzkisten, Sinowjewisten, Menschewiki und Anarchisten über Priester, Katholiken, frühere zaristische Offiziere, »ehemals reiche Händler«, »weiße Banditen«, »Kulaken« und Personen »mit Beziehungen ins Ausland« bis hin zu den pauschal gefassten »Terroristen«, »Saboteuren«, »antisozialen Elementen« sowie einfachen Dieben und Prostituierten. 31 Der Diensteifer zeitigte die üblichen Ergebnisse. An einem Sammelpunkt, bemerkte ein empörter Beobachter,
    warteten ungefähr hundert Menschen auf die Reise in die Verbannung. Es waren hauptsächlich alte Frauen; alte Frauen in altmodischen Umhängen und abgetragenen Samtmänteln. Dies sind die Feinde, die unsere Regierung zu bekämpfen vermag – und, wie sich herausstellt, die einzigen. Die Deutschen stehen vor den Toren, die Deutschen sind bereit, in die Stadt einzuziehen, und wir haben nichts anderes zu tun, als alte Frauen zu verhaften und zu deportieren – einsame, schutzlose, harmlose Menschen. 32
    Unter den Opfern war Olga Berggolz’ bejahrter Vater, ein Arzt in einer Rüstungsfabrik. Am Mittag des 2. September vom Polizeirevier vorgeladen, erhielt er den Befehl, bis 18 Uhr am selben Abend abzureisen. »Papa ist Militärarzt und dient der Sowjetregierung seit vierundzwanzig Jahren treu und ehrlich«, schrieb Berggolz ungläubig in ihrem Tagebuch. »Er war während der ganzen Dauer des Bürgerkriegs in der Roten Armee und rettete Tausende von Menschen, ist russisch bis ins Mark … Es hat den Anschein – kein Scherz –, dass das NKWD einfach seinen Familiennamen nicht leiden kann.« 33 Infolge des deutschen Vormarsches und dank seiner Tochter, die wie rasend ihre Beziehungen spielen ließ, gelang es ihm, bis zum folgenden Frühjahr in Leningrad zu bleiben. Dann wurde er halb verhungert nach Krasnojarsk in Westsibirien deportiert. Die Gründe? Sein Judentum, seine Weigerung, Kollegen zu bespitzeln, und wahrscheinlich seine Verwandtschaft mit Olga Berggolz, für deren Wohlverhalten er als Geisel diente, da sie durch ihre Kriegsdichtung zu einer populären Figur geworden war.
    Ende August schlug das herrliche Spätsommerwetter um. Regenwasser gluckerte durch die dicken verzinkten Abzugsrohre, rann über die Pflastersteine, trübte die Grün- und Gelbtöne der Stuckfassaden. Außerhalb der Stadt gingen die Kämpfe immer noch in Schlamm und Nässe hin und her. Am 31. August fiel Mga endlich, nachdem es dreimal den Beherrscher gewechselt hatte, und damit war auch die letzte Bahnstrecke aus der Stadt hinaus abgeschnitten. »Die Stawka hält die Taktik der Leningrader Front für schädlich«, drohte Stalin. »Sie versteht nur eines: sich zurückzuziehen und neue Rückzugslinien zu finden. Haben wir nicht genug von diesen heldenhaften

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