Blondes Gift
entdeckte Jack an der Wand einen Ständer mit Broschüren. Fahrpläne. Vielleicht gab es da auch einen Stadtplan. Wäre es zu viel verlangt, oh Höhere Macht, dass er dort einen Stadtplan fand, auf dem die örtliche Dienststelle des FBI eingezeichnet war? Handelte es sich dabei nicht vielleicht um eine Sehenswürdigkeit? Womöglich konnte er sie mit dieser Hochbahn sogar erreichen. Er konnte sich einfach jemandem anschlie ßen, einem der Pendler, jemandem, der so früh schon unterwegs war; er konnte ihm oder ihr zum Gebäude folgen, dann durch die Eingangstür huschen, den Angestellten am Empfang aufsuchen und zu ihm sagen: »Ich brauche sofort Hilfe.«
Aber der Pendlerverkehr setzte erst etwas später ein.
Auf dem Bahnsteig standen nur zwei weitere Personen; Angela und ein älterer Typ in einem gestreiften
Hemd. Eines dieser gestreiften Hemden, die seit mindestens fünfzehn Jahren aus der Mode waren: mit verschiedenfarbig gestreiften Feldern. Die eine Schulter des Typen war rot, unten links der Bauch blau. Dann gab es noch etwas gelb und orange. Ein Typ, den Jack vom College kannte, hatte so ein Hemd getragen. Es war damals für ungefähr fünf oder sechs Wochen angesagt gewesen, soweit er sich erinnerte.
Der Typ mit dem gestreiften Hemd hatte sich am Rand des Bahnsteigs postiert und blickte Richtung Innenstadt. Angela wartete auf der anderen Seite, wo die Züge Richtung Frankford abfuhren.
Jack eilte zu dem Typen mit dem gestreiften Hemd. Es gab keinen Grund, Angela in Panik zu versetzen, solange er nicht wusste, was er als Nächstes tat. Jack klappte den Fahrplan auf. Es gab keine Karte, aber dort stand, dass die erste Hochbahn in der Früh hier um 5.07 Uhr hielt, also in ein paar Minuten.
Halt, Moment. Da: Angela entfernte sich noch mehr. Er durfte sie nicht zu weit fortgehen lassen. Er musste in der Lage sein, die Entfernung innerhalb weniger Sekunden zu überbrücken, bevor der Schmerz zu groß wurde. Was konnte er ihr sagen, damit sie ihm seine Geschichte glaubte? Jetzt verstand er Kellys Gesprächseinstieg viel besser. Die ganze Giftgeschichte, die sie sich ausgedacht hatte, um ihn alleine auf ein Zimmer zu lotsen. Damit er ihr zuhörte.
Bloß die Sache war die: Er hatte ihr nicht geglaubt. Nicht, bis es zu spät war. Welche Chance hatte er da, Angela zu überzeugen?
Gerade wälzte sich die Sonne über den Horizont wie das glimmende Ende einer dicken Zigarre. Draußen am Flussufer wurden die halbfertigen Stahlkonstruktionen zweier hoch aufragender Gebäude von Licht überflutet. Die Luft wurde merklich wärmer. Die Feuchtigkeit trieb Jack Schweißperlen auf die Stirn.
Was sollte er ihr sagen?
Ach, ihm fiel schon was ein. Das Wichtigste war, dass er an ihr dranblieb. Dass er sie nicht verängstigte, ihr aber näher kam. Auf eine angemessene Entfernung – etwas weniger als drei Meter. Nicht ganz die Länge eines Geländewagens.
Sie bemerkte ihn aus dem Augenwinkel und fing an, sich zu entfernen.
Verdammt. Jack wollte nicht hier sterben, auf diesem feuchten Bahnsteig.
Angela entfernte sich jetzt sogar noch mehr.
Was konnte er ihr bloß sagen?
Null Uhr
Pennsylvania Hospital
J etzt tat sich was, draußen in der wirklichen Welt. Da waren Ärzte, die versuchten, sie an Geräte anzuschließen, die versuchten herauszufinden, warum sie
auf die Behandlung nicht ansprach. Und sterile Nadeln, die ihr ins Fleisch gebohrt wurden. Vielleicht schloss man sie an ein intelligentes Gerät an. Ein Gerät, das die Mary Kates in ihrem Blut aufspüren konnte. Aber wahrscheinlich nicht.
Dann wurden ihre Augen gewaltsam von Fingern geöffnet. Kalte Finger, raue Haut. Die Helligkeit tat weh, aber als sie wieder etwas sehen konnte, erkannte sie sein Gesicht.
Es war der Boss, der über ihr auftauchte.
»Oh. Du hast dir die Haare gefärbt.«
Die Wissenschaftler glauben, dass die letzten echten
Blondinen in den nächsten 200 Jahren aussterben
werden. Eine Studie deutscher Experten besagt, dass
Menschen mit blonden Haaren einer gefährdeten
Spezies angehören und im Jahr 2202 ausgestorben sein
werden.
- BBC NEWS.COM
5:05 Uhr
The Hot Spot
W ährend Kowalski in dem Sexclub auf Jack Eisleys Brieftasche wartete, dachte er über ein paar Zeilen von Raymond Chandler nach, die er letzten Dezember gelesen hatte: »Sie wissen, wie das mit der Ehe ist. Mit jeder Ehe. Nach einer Weile will ein Kerl wie ich, ein gewöhnlicher nichtsnutziger Kerl wie ich, einen Schenkel spüren. Den Schenkel einer anderen Frau. Vielleicht ist
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