Blood and Chocolate - Curtis Klause, A: Blood and Chocolate - Blood and Chocolate
sie darin wie in Tarotkarten die Zukunft lesen. »Vielleicht hat Rudy Recht. Wir brauchen jetzt eine andere Art von Anführer. Einen, der nicht zurückschreckt, jemandem wehzutun, wenn es für das Gemeinwohl notwendig ist.« Sie streckte einen zitternden Finger aus und berührte die Lippen eines Gesichts, das jetzt nur noch auf einem quadratischen Stück Kodakpapier existierte. »Aber zu seiner Zeit«, flüsterte sie, »oh, da war er der Beste.«
Esmés Schultern hoben und senkten sich unter hilflosem Schluchzen, und Vivians Wut verflog. Sie legte die Arme um ihre Mutter, vergrub das Gesicht in Esmés Haaren und weinte mit ihr in einem misstönenden Duett. Esmé klammerte sich verzweifelt an ihr fest.
Sie konnten nichts machen. Er war tot, und die Welt war eine fremde Landschaft.
»Gehen wir aus«, sagte Esmé unvermittelt und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Lassen wir den Kopf nicht hängen.« Sie packte Vivian an den Schultern und gab ihrer Tochter einen flüchtigen Kuss auf die Nase. »Wir machen einen drauf und gehen essen. Das haben wir uns verdient.« Sie sprang auf.
Der abrupte Stimmungswechsel ihrer Mutter ließ Vivian für einen Moment sprachlos zurück.
»Wir gehen ins Tooley’s und schauen, ob jemand aus dem Rudel dort ist«, sagte Esmé. »Aber ich kann mir nur Hamburger leisten.«
»Das darf ich nicht«, sagte Vivian. »Ich bin minderjährig.«
»Unsinn«, meinte Esmé beharrlich. »Solange du keinen Alkohol trinkst, wird dich keiner rausschmeißen. Zumal du den Laden definitiv verschönern wirst.« Esmé lächelte ihrer Tochter stolz zu. »Du siehst mir so ähnlich.«
Vivian musste grinsen. Esmé war wieder ganz die Alte, arrogant wie eh und je. Vielleicht würde es ja Spaß machen. Vielleicht würde sie die eine oder andere Keilerei und das freundschaftliche Geplänkel bei Tooley’s genießen. Vielleicht würde es sich gut anfühlen, einem törichten Jungen eine Ohrfeige zu verpassen, über die er nur lachen würde. »Sicher, Mom. Zeigen wir’s denen.«
»Abgemacht«, sagte Esmé. »Jetzt muss ich mir das Gesicht waschen gehen. Ich sehe beschissen aus.«
An der Tür hielt sie inne und drehte sich zu Vivian um. Ihre Unterlippe bebte wieder leicht. »Danke, mein Schatz«, sagte sie liebevoll.
Bei Tooley’s waren ein paar Leute an den Tischen und in den Sitzgruppen verteilt; ein paar Biker saßen an der Bar, und vier Männer hatten sich um den Großbildschirm versammelt und sahen zu, wie die Orioles verloren. Kein Rudel , dachte Vivian, bis sie aus einer im Dunkeln liegenden Eckgruppe mit eifrigem Gejaule begrüßt wurden.
»Pass bloß auf, Bucky«, meinte Esmé warnend, die Hand an der Hüfte, doch Vivian wusste, dass sie enttäuscht gewesen wäre, wenn er sie nicht bemerkt hätte.
»Du arbeitest heute nicht«, brummte der Besitzer Terry O’Toole hinter der Bar. »Was treibst du hier?«
»Ich kann mich nicht von dir losreißen, Süßer«, sagte Esmé und ließ sich ach so süß und aufreizend auf einen Stuhl gleiten.
Tooley errötete leicht, und Vivian sah das zufriedene Zucken um seine Lippen. »Die trinkt keinen Alkohol«, versetzte er barsch und wies mit einem Geschirrtuch auf Vivian.
Vivian zuckte mit den Schultern. »Ich doch nicht.« Sie setzte sich zu ihrer Mutter und schlug die Beine auf eine Art und Weise übereinander, die sie, wie sie wusste, ellenlang aussehen ließ.
»Ich weiß , dass du unter einundzwanzig bist«, fügte Tooley hinzu, als habe es Widerrede gegeben. Er machte sich daran, die Wasserflecken von einem Glas zu polieren, das sich sowieso niemand allzu genau ansehen würde.
»Hi, Brenda«, sagte Esmé zu der Kellnerin, die an ihrem Tisch auftauchte. »Wir hätten gern zwei Portionen Fett
in einem Brötchen mit allem Drum und Dran. Fassbier für mich und einen Shirley Temple für mein Baby.«
»Lieber eine Cola«, sagte Vivian.
Brenda zwinkerte ihr zu. »Soll ich sie ein bisschen aufpeppen?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Nö. Meine alte Dame darf nicht ihre Stelle verlieren.«
»Alte Dame!«, kreischte Esmé, und Brenda zog kichernd mit der Bestellung ab.
Erst als sie sich die letzten Krümel vom Mund wischten, kamen allmählich weitere Rudelmitglieder in die Bar, manche gähnten noch von einem Nickerchen nach der Arbeit, andere wollten einen draufmachen. Tooley’s war genau die richtige Adresse: der Ort, an dem man erfuhr, wo die Party abging.
Die meisten Wölfe kamen an Vivians und Esmés Tisch und begrüßten sie. Es gab noch
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