Blood - Ein Alex-Cross-Roman
um?
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Zwei Abende später war der Schlachter wieder unterwegs. Nur er. Ein Mann.
Er hatte jetzt einen Plan und fuhr nach Süden, Richtung New York. Er war angespannt und nervös, begleitete aber Springsteen, Dylan, The Band und Pink Floyd mit seiner Stimme. Vier Stunden Fahrt und nichts als Oldies und Goldies. Er fühlte sich nicht hundertprozentig wohl dabei, Caitlin und die Jungs in dem Haus in Massachusetts zurückzulassen, aber soweit er es beurteilen konnte, waren sie für den Augenblick dort sicher. Falls nicht, dann hatte er zumindest alles für sie getan, was er konnte. Weit mehr jedenfalls, als sein Vater jemals für ihn, für seine Mutter oder seine Brüder getan hatte.
Gegen Mitternacht verließ er schließlich den West Side Highway und steuerte ohne Umwege die Morningside Apartments in der West 107th Street an. Hier war er schon öfter abgestiegen und wusste, dass er genau die Abgeschiedenheit finden würde, die er brauchte. Und außerdem eine gute Verkehrsanbindung mit zwei nahe gelegenen U-Bahn-Stationen und vier U-Bahn-Linien.
Die Zimmer hatten keine Klimaanlage, das wusste er noch, aber das spielte im November auch keine Rolle. Er schlief ruhig und friedlich wie ein Baby im Bauch der Mutter. Als Sullivan um sieben Uhr, bedeckt von einer dünnen Schweißschicht, aufwachte, hatte er nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Rache an Junior Maggione . Oder, was vielleicht noch besser war: Möge der Beste und Härteste überleben.
Gegen neun Uhr morgens fing er an, mit der U-Bahn ein
paar Örtlichkeiten für die Morde auszukundschaften, die er in nächster Zukunft zu begehen gedachte. Er hatte eine »Wunschliste« mit verschiedenen Zielpersonen angelegt und fragte sich, ob die Männer und die beiden Frauen, die darauf standen, irgendeine Ahnung davon hatten, dass sie so gut wie tot waren, dass es nur an ihm lag, wer sterben musste und wer am Leben blieb, das Wann und das Wo.
Am Abend, gegen neun, fuhr er hinüber nach Brooklyn, in sein angestammtes Revier. Direkt in Junior Maggiones Viertel, sein Territorium in Carroll Gardens.
Er dachte mit einer gewissen Wehmut an seinen alten Kumpel Jimmy Hats und dass Maggiones Vater ihn vermutlich umgelegt hatte. Irgendjemand war es jedenfalls gewesen und hatte dann die Leiche verschwinden lassen, als hätte es Jimmy niemals gegeben. Er hatte immer schon Maggione Senior im Verdacht, und somit gab es noch eine Rechnung, die der Schlachter zu begleichen hatte.
So langsam kochte sie in ihm hoch, diese schreckliche Wut. Über irgendetwas. Vielleicht über seinen Vater, den originalen Schlachter von Sligo, dieses Stück irischen Abschaums, der sein Leben zerstört hatte, noch bevor er zehn Jahre alt gewesen war.
Er bog in Maggiones Straße ein und musste plötzlich lächeln. Der mächtige Don lebte immer noch wie ein leidlich erfolgreicher Klempner oder vielleicht ein Elektriker in einem Zweifamilienhaus aus gelben Backsteinen. Was aber noch überraschender war − auf der Straße waren keine Wachposten zu sehen.
Also, entweder unterschätzte Junior ihn dramatisch oder seine Leute waren wahnsinnig gut darin, sich auf freiem Feld zu verstecken. Verflucht noch mal, vielleicht zielte jetzt in diesem Augenblick gerade einer mit seinem Scharfschützengewehr
auf seine Stirn. Vielleicht hatte er nur noch wenige Sekunden zu leben .
Die Anspannung brachte ihn fast um. Er musste wissen, was hier los war. Also drückte er auf die Hupe seines Wagens, einmal, zweimal, dreimal. Nichts passierte, absolut gar nichts.
Niemand jagte ihm eine Kugel in den Kopf. Und zum ersten Mal überhaupt ließ der Schlachter folgenden Gedanken zu: Könnte sein, dass ich diesen Kampf gewinne.
Er hatte das erste Rätsel gelöst: Junior Maggione hatte seine Familie aus dem Haus geschafft. Auch Maggione war auf der Flucht.
Dann brachte er seinen Gedankenfluss mit einem Wort zum Stillstand − Fehler .
Er durfte keinen einzigen begehen, keinen einzigen Fehltritt von jetzt an bis zum Ende des Ganzen. Falls doch, war er tot.
So einfach war das.
Ende. Aus.
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Es war spät, und ich beschloss, noch eine Runde mit dem R 350 zu drehen. Ich liebte dieses Auto. Die Kinder auch. Sogar Nana, Gott sei Dank. Ich ertappte mich wieder bei dem Gedanken an Maria. An meine lang andauernden Ermittlungen in ihrem Mordfall und an mein Versagen . Ich quälte mich damit, versuchte mir ihr Gesicht vorzustellen, den genauen Klang ihrer Stimme.
Später, als ich wieder zu Hause war, versuchte ich einzuschlafen, konnte
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