Blood - Ein Alex-Cross-Roman
werden. Damals hatte Sullivan nicht viel Humor. Außerdem hatte er eine Heidenangst davor, dass ihm die Schneidezähne rausgeschlagen werden. Er hat gedacht, er würde später mal Filmstar oder so was. Das ist die Wahrheit, ich schwöre bei Gott. La verità , ja? Sein Alter und seine Mom hatten ihre künstlichen Zähne in einem Glas Wasser neben dem Bett stehen.«
Mullino erzählte, dass Sullivan sich auf der Highschool verändert habe. »Da ist er knallhart geworden und hinterlistig wie eine Schlange. Aber er hat einen ziemlich guten Sinn für Humor entwickelt, zumindest für einen Iren.«
Er beugte sich dicht über die Theke und senkte die Stimme. »In der neunten Klasse hat er einen Typen umgebracht, Nick Fratello. Fratello hat im Zeitungskiosk gearbeitet, war für die Pferdewetten zuständig. Er hat Mikey die ganze Zeit schikaniert, ist ihm ständig auf den Sack gegangen. Ohne Grund. Also hat Sully ihn umgebracht, mit einem Teppichmesser! Da ist die Mafia auf ihn aufmerksam geworden, besonders John Maggione. John Maggione Senior , meine ich.
Da hat Sully dann angefangen, sich in diesem Social Club in Bensonhurst rumzutreiben. Keiner hat gewusst, was er eigentlich macht. Nicht mal ich. Aber mit einem Mal hatte er Geld in der Tasche. Mit siebzehn, vielleicht achtzehn, hat er sich einen Grand Am zugelegt, einen Pontiac Grand Am. Wahnsinnig heißer Schlitten damals. Maggione junior
hat Mike immer gehasst, weil er die Anerkennung des Alten bekommen hat.«
Mullino blickte von Sampson zu mir und seine Geste besagte: Was soll ich euch sonst noch sagen? Kann ich jetzt gehen?
»Wann haben Sie Michael Sullivan zum letzten Mal gesehen?«, wollte Sampson wissen.
»Zum letzten Mal?« Mullino lehnte sich zurück und mimte umständlich den Nachdenklichen. Dann fingen seine Hände wieder an zu zappeln. »Ich würde sagen, das war bei Kate Gargans Hochzeit in Bay Ridge. Muss sechs oder sieben Jahre her sein. Soweit ich mich erinnern kann, wenigstens. Aber Sie haben ja wahrscheinlich mein ganzes Leben auf Tonband und Video aufgenommen, stimmt’s?«
»Schon möglich, Mr Mullino. Wo ist Michael Sullivan jetzt? Die Weihnachtskarten? Von wo wurden die abgeschickt?«
Mullino zuckte mit den Schultern und warf die Arme in die Luft, als ob ihn das Gespräch langsam ein bisschen ermüdete. »So viele waren das nicht. Ich glaube, die waren in New York abgestempelt. Manhattan? Aber ohne Absender. Also müssten eher Sie mir verraten, wo Sully zurzeit steckt.«
»Er ist hier, in Brooklyn, Mr Mullino«, sagte ich. »Sie haben sich vorgestern mit ihm getroffen, in der Chesterfield Lounge in der Flatbush Avenue.« Dann zeigte ich ihm das Foto, auf dem er zusammen mit Michael Sullivan zu sehen war.
Mullino zuckte mit den Schultern und lächelte. Keine große Sache, wir hatten ihn bei einer Lüge ertappt. »Wir waren früher mal befreundet. Er hat mich angerufen, wollte mit mir reden. Was hätte ich machen sollen, ihn verpfeifen? Keine gute Idee. Warum habt Ihr ihn nicht gleich geschnappt?«
»Pech«, erwiderte ich. »Die beschattenden Agenten hatten keine Ahnung, wie er heutzutage aussieht − die Stoppelhaare, diese Siebzigerjahre-Punk-Aufmachung. Daher muss ich Sie jetzt erneut fragen: Wo hält sich Michael Sullivan derzeit auf?«
94
Michael Sullivan brach die altehrwürdigen Sitten und ungeschriebenen Gesetze der Familie, und er war sich dessen bewusst. Auch über die Konsequenzen war er sich nur allzu deutlich im Klaren. Aber sie hatten mit diesem Wahnsinn angefangen, oder etwa nicht? Sie wollten ihn erledigen, und zwar vor den Augen seiner Kinder.
Jetzt würde er es zu Ende bringen, vielleicht würde er beim Versuch sterben. Aber so oder so, für ihn war es ein Wahnsinnstrip, ein Wahnsinnstrip.
Samstagvormittag, halb elf, und er saß am Steuer eines UPS-Lieferwagens, den er vor nicht einmal zwanzig Minuten gekapert hatte. Zuerst FedEx, jetzt UPS, damit war er zumindest ein Kaperer mit Sinn für Chancengleichheit. Der Fahrer lag im Laderaum und tat sein Möglichstes, um sich von einer aufgeschlitzten Kehle zu erholen.
Am Armaturenbrett klebte ein Bild von seiner Freundin oder seiner Frau oder was sie sonst sein mochte − die Dame war jedenfalls fast genauso hässlich wie der sterbende Fahrer. Nichts hätte dem Schlachter gleichgültiger sein können als dieser beiläufige Mord. Er empfand nichts für den Fremden, ehrlich gesagt war für ihn eigentlich jeder ein Fremder, meistens sogar seine eigene Familie.
»Hey, alles in
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