Blood Lily Chronicles 02 - Zerrissen
Spätnachmittagsverkehr. Rose saß hinter mir, hatte die Arme um meine Taille geschlungen und presste das Gesicht fest gegen meinen Rücken. Ich spürte, dass sie Angst hatte, und ich war froh darüber. Froh, dass ich meine Schwester mit meinem halsbrecherischen Tempo in Angst und Schrecken versetzte - und das, wo sie doch das Motorrad nie gemocht hatte und nie hatte mitfahren wollen.
Aber solange sie Angst hatte, war sie nicht Johnson. Und solange sie nicht Johnson war, verursachte mir ihre körperliche Nähe auch keine Übelkeit.
»Wo fahren wir hin, Lily?«, fragte sie, während ich im Leerlauf vor einer roten Ampel wartete.
»Alice«, erwiderte ich. »Du musst mich Alice nennen. Und ich habe es dir doch schon erklärt. Ich muss ein paar Sachen mit Joe besprechen.«
»Ach so. Stimmt. Jetzt erinnere ich mich wieder.« Aber sie klang verwirrt, als würde sie verzweifelt in ihrem Gedächtnis herumkramen. Am liebsten hätte ich das Motorrad hingeschmissen, sie in die Arme genommen und ihr versprochen, dass ich alles wieder in Ordnung bringen würde. Aber das konnte ich nicht tun. Immer hatte ich nur Versprechungen gemacht. Es wurde Zeit, dass ich sie auch mal hielt.
Wir erreichten unser schäbiges Viertel mit den heruntergekommenen Schindeldachhäusern, den vernachlässigten Rasenflächen und den mit Bierdosen verzierten Gärten. Es hatte mal Zeiten gegeben, da hatte unser Haus gepflegt ausgesehen. Meine Mutter hatte sich darum gekümmert, dass es immer frisch gestrichen und sauber war und die prachtvoll blühenden Blumen gegossen wurden. Damals war der Mittelpunkt unseres Vorgartens eine bequeme Hollywoodschaukel mit frisch aufgeschüttelten Kissen gewesen, und ein paar Schritte weiter hatte ein Schild gestanden: Willkommen bei den Carlyles.
Inzwischen war das Schild verwittert und kaum mehr lesbar, die Hollywoodschaukel verrostet, die Kissen waren vergilbt und verschimmelt. Das Haus wirkte glanz- und leblos, und zum ersten Mal war ich richtig froh, ein neues Leben zu haben. Ein neues Zuhause. Sogar über mein neues Ich freute ich mich.
Ich stellte den Motor aus. »Komm«, sagte ich zu Rose.
Sie kaute auf ihrer Oberlippe herum. Sie war nervös. Sie war Rose. Und nichts hätte mich glücklicher machen können.
Als wir auf die Haustür zugingen, fragte ich mich kurz, warum Johnson sich wohl zurückgezogen hatte. Hatte ich irgendetwas getan, was ihn zu diesem Rückzug zwang? Und konnte ich dass bewusst bewirken?
Nicht dass mir viel Zeit geblieben wäre, mich diesen tiefschürfenden Fragen zu widmen. Unser Haus ist keine Villa, der Weg zum Haus keine Auffahrt, und mit sechs großen Schritten standen wir auch schon vor der Veranda.
»Meinst du, er ist zu Hause?«, fragte ich, weil mir gerade wieder eingefallen war, dass Joe ja einen Job hatte. Was man allerdings auch leicht vergessen konnte, schließlich hatte er nach dem Tod meiner Mutter mehr Zeit auf dem Sofa als auf Baustellen zugebracht.
Rose zuckte mit den Schultern. »Normalerweise ist er da. Vor allem, seit du tot bist.« Bei den Worten legte sie die Stirn in Falten, wirkte aber nicht übermäßig verängstigt.
Ich zog einen Flunsch. Wieder mal war alles meine Schuld. Mein Beschluss, Johnson in jener Nacht umzubringen, hatte nicht nur auf mein eigenes Leben Auswirkungen gehabt. Ich hatte egoistisch gehandelt, und jetzt zahlte ich den Preis dafür. Und das nicht zu knapp.
Wir stiegen die Stufen hinauf, und ich klopfte kräftig mit der linken Hand gegen die Tür. Meine rechte Hand war anderweitig beschäftigt - Rose hatte sie gepackt und hielt sie fest umklammert. Ich konnte sie gut verstehen. Sie wollte, dass das hier klappte. Sie wollte mindestens ebenso dringend mit mir mitkommen, wie ich sie bei mir haben wollte.
Joe war nicht immer solch ein Nichtsnutz gewesen. Damals, als meine Mutter und er geheiratet hatten, war er sogar ziemlich gut drauf gewesen. Ich erinnerte mich, wie er mich Huckepack getragen und mit Mom und mir ausgedehnte Ausflüge in seinem Cabriolet gemacht hatte.
Nach dem Tod meiner Mutter war alles anders geworden. Der Joe, den ich gemocht hatte, hatte sich in den Joe verwandelt, der trank. In den Joe, der manchmal zuschlug. In den Joe, den ich einfach hätte sitzen lassen, wenn Rose nicht hätte bei ihm bleiben müssen - und wenn ich meiner Mutter nicht versprochen hätte, auf meine kleine Schwester aufzupassen.
Ich machte mir gerade Hoffnung, dass er die Kurve gekriegt hatte und zur Arbeit gegangen war, als ich sah, wie sich
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