Blood Lily Chronicles 02 - Zerrissen
Und so wie Kiera sich aufrichtete und dann zu mir hersah, hatte er wohl auch direkt in ihren Kopf gesprochen.
Der Satz galt allerdings nicht Kiera, sondern mir, dessen war ich mir sicher. Er war voll auf mich konzentriert. Zweifellos sprach er von der Prophezeiung.
»Der Meister«, fuhr er fort, »der Meister ist vom Pfad der Rechtschaffenheit abgewichen.«
Ich linste zu Kiera, die einen äußerst verwirrten Eindruck machte. Und ich, ich dachte an die Dunkelheit, die ich in mich aufgenommen hatte. Die Dunkelheit, die ich in mir nicht unter Verschluss halten konnte, die an allen Ecken und Enden heraussickerte, egal wie sehr ich mich bemühte, sie unter dem Deckel zu halten.
Ja, die Beschreibung passte besser, als mir lieb sein konnte.
»Ich bin es«, sagte ich.
Kiera runzelte die Stirn, und ich fragte mich, was sie sich gerade denken mochte. Und ich fragte mich auch, was Zane mir da eigentlich erzählt hatte. Andererseits hatte Zane nicht behauptet, sie gehöre zu den Guten. Nur, dass sie mir eine gute Partnerin wäre.
Scheiße.
Ich wusste nicht einmal, wer ich war, geschweige denn, wer sie war. Ich wusste lediglich, dass, wenn man der Sache auf den Grund ging, die Beschreibung des Wächters bis zum letzten i-Tüpfelchen auf mich zutraf.
»Ich bin der Meister«, sagte ich. »Und einst hatte ich mich aufgemacht, einen Mann zu töten, nur um mich am Rand der Hölle wiederzufinden. Bist du nun zufrieden, alter Mann?«
Er blinzelte langsam. »Durch den Weg, für den du dich entscheidest, besiegelst du dein Schicksal.«
»So hat man mir gesagt. Aber ich tue mein Möglichstes, es wieder zu entsiegeln.«
»Trink.«
Ein Kelch war plötzlich in seiner Hand aufgetaucht, die er mir entgegenstreckte. Ich nahm ihn und schaute hinein. Er war gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit, und am Boden des Kelchs lag ein Kristall mit einer kleinen Metallschlaufe. Ein Amulett, dachte ich. Es passte zu meiner Halskette.
»Trink«, wiederholte er.
»Wieso kann ich nicht einfach reingreifen?«
Er neigte den Kopf, als wollte er mir sagen, ich könne es ruhig einmal versuchen. Doch als meine Finger an den Boden des Bechers stießen, war nichts mehr da.
»Trink.«
»Ja, schon gut«, antwortete ich unwirsch. »Ich hab’s kapiert! Was ist das?«
»Es wird dich entweder töten oder dir helfen.«
»Und ich werde es nur herausfinden, indem ich es trinke?«
»Ich gebe dir eine Hilfestellung«, sagte der Wächter. »Was du suchst, möchte ich nicht freigeben. Erschließe dir meinen Charakter! Entscheide, ob ich töten würde, um meinen Schatz zu beschützen!«
»Toll. Eine Frage der Logik.« Bei solchen Gelegenheiten - gefangen in einer Höhle mit einem Kelch, möglicherweise voll Gift - bedauere ich es immer sehr, die Highschool geschmissen zu haben.
Ich blickte zu Kiera, aber die zuckte nur mit den Schultern. Offenbar war ich auf mich allein gestellt.
»In Ordnung.« Ich konzentrierte mich auf das Problem. »Der Edelstein ist Teil des Oris Clef der, wie wir wissen, die Hölle sperrangelweit öffnet. Du versteckst ihn, also gehörst du zu den Guten. Aber die Guten töten nicht - es sei denn, um etwas Gutes zu beschützen, die Teile zum Beispiel. Dafür würden die Guten töten, und ich glaube, das haben sie auch schon getan. Und ich glaube, das ist auch richtig so.«
»Du bist weise.«
»Daraus folgt: Das hier ist Gift.« Ich wartete umsonst auf Bestätigung und fuhr fort. »Du könntest aber auch ein Dämon sein, der den Oris Clef für sich behalten will. Dann würdest du töten, um zu verhindern, dass er in die falschen Hände fällt.«
»Du bist scharfsinnig. Wirst du trinken?«
»Du hast gerade gesagt, dass es in beiden Fällen Gift ist«, schaltete sich Kiera ein.
»Stimmt.« Ich hob den Kelch an meine Lippen und schaute Kiera tief in die Augen, damit sie sich an das erinnerte, was sie in jener Nacht vor dem Nachtklub gesehen hatte. »Genau das habe ich gesagt.«
»Ohhhh.« Sie lächelte, als die Erinnerung zurückkehrte. »Ich habe wirklich eine verdammt coole Partnerin.«
Aber ich hörte schon nichts mehr. Weil ich trank. Und, wieder einmal, starb.
Als ich das erste Mal gestorben und zurückgekommen war, hatte ich gespürt, wie die Schlangen der Hölle sich um mich wanden, während die Rettungssanitäter mit mir zugange waren. Die letzten paar Mal - ich ließ das Sterben anscheinend zur Gewohnheit werden - war um mich nur Schwärze. Eine dunkle, einsame Leere, die mir fast mehr Angst machte als das Höllenfeuer,
Weitere Kostenlose Bücher