Blood Romance 04 - Ruf der Ewigkeit
wollte endlich wissen, was Emilia mit ihr vorhatte und welchen teuflischen Plan sie schmiedete. Sie schielte zu Emilia, die lächelnd zu den Charts der Woche vor sich hinsummte. Sarah beugte sich vor und drehte die Musik leiser.
»Wann sagst du mir, was das hier soll?«, fragte sie. Eigentlich hatte sie selbstbewusster klingen wollen, aber sie schaffte es einfach nicht, ihre Angst und Nervosität zu verbergen.
»Hm, ich dachte, ich hätte mich vorhin klar ausgedrückt«, erwiderte Emilia kühl und hielt den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet. »Es ist noch zu früh für Erklärungen ... Aber gut«, fügte sie schließlich hinzu, »zu deiner Information: Ich nehme mal an, du weißt, worauf es mir bei dieser ganzen Sache eigentlich ankommt. Oder besser gesagt, auf wen ... Ich will Dustin. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm offen. Und um ihn zu kriegen, brauche ich dich, so leid es mir tut, dich da mit hineinziehen zu müssen. Aber du, Schätzchen, bist nun mal der perfekte Köder. In zweierlei Hinsicht...«
Sarahs Kehle schnürte sich noch enger zusammen. »Ich weiß nicht, wo Dustin im Moment ist«, presste sie hervor. »Wir haben uns erst kürzlich entschieden, getrennte Wege zu gehen und keinen Kontakt mehr zu haben.«
Emilia zwinkerte ihr zu. »Ach, gemeinsam kriegen wir schon heraus, wo er steckt. Entweder, indem dir plötzlich vielleicht doch noch ein kleiner wichtiger Hinweis einfällt, oder eben auf einem anderen Weg.«
Sarah schauderte und beschwor sich, keinen weiteren Ton mehr von sich zu geben. Alles, was sie sagte, konnte unter Umständen gegen sie und Dustin verwendet werden. Sie verfluchte sich. Warum nur war sie überhaupt nach Rapids zurückgekehrt? Ein paar Minuten nur, hatte sie gedacht ... Und nun würden diese Minuten vielleicht ihr Ende bedeuten. Ihres und auch Dustins.
Sie hatten bereits die halbe Stadt umrundet, als Emilia plötzlich scharf bremste und in die vierspurige Hauptstraße abbog, die durchs Industriegebiet führte. Die Türme und qualmenden Schornsteine der Papierfabrik hoben sich diffus vor dem rötlichen Licht des Abendhimmels ab, wie eine Gruppe rauchender dunkler Gestalten. Emilia verlangsamte ihr Tempo und lenkte den Wagen durch die Einfahrt in einen Hinterhof. Ein massives graues Gebäude, das Sarah an einen Betonbunker erinnerte, ragte wie ein überdimensionaler Bauklotz vor ihnen auf.
»So, hier sind wir schon.« Emilia stellte den Motor ab und fischte ein kleines schwarzes Kästchen aus ihrer Handtasche. Mit spitzem Finger drückte sie den Knopf darauf und augenblicklich schob sich ein Eisentor quietschend aus der Maueröffnung und schloss die Einfahrt hinter ihnen. Sarah stieg aus und sah sich um. Sie hatte angenommen, sie würden irgendwo hinausfahren, etwa in einen der Wälder, die an Rapids grenzten, und Emilia würde sie dort in einer verfallenen Holzhütte unterbringen. Dieser Ort hier glich eher einem Gefängnishof.
»Komm schon, du hast sicherlich Hunger und Durst, nicht wahr?«
Emilia stöckelte voraus auf das Gebäude zu, ohne auf Sarah zu achten. Sie schien sich sicher zu sein, dass niemand von hier fliehen konnte. Sarah folgte ihr in sicherem Abstand zu einem Aufzug. Neonröhren, an denen Spinnweben und tote Fliegen klebten, verbreiteten unnatürliches kaltes Licht in der fensterlosen Eingangshalle.
»Na, was sagst du dazu? Ich habe dieses ganze riesige Schloss für mich allein«, erklärte Emilia. »Ein echter Glücksgriff, aber eigentlich halte ich mich nur im obersten Stockwerk auf. Du wirst gleich sehen, warum.« Sie drückte den Knopf mit der Ziffer sieben und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Verstohlen musterte Sarah Emilia nun genauer. Sie war etwa einen Kopf größer als sie, sehr schlank und durchtrainiert. Nichts an ihr wirkte weich, trotz ihrer weiblichen Rundungen und der langen seidigen Haare. Hinzu kam, dass Sarah einfach nicht vermochte, sie auf irgendein Alter zu schätzen. Emilia schien im wahrsten Sinne des Wortes ... zeitlos. Mal sah sie jung aus wie Sarah selbst, im nächsten Augenblick jedoch wie eine alte, vom Leben gezeichnete Frau. Emilias Gesicht schien sich ständig, in einer für das menschliche Auge nicht fassbaren Geschwindigkeit, zu wandeln, in Bewegung zu sein, zu flimmern und zu verschwimmen.
Beinahe so, als könnte es sich nicht entscheiden, wohin es gehören will, dachte Sarah fasziniert und schaudernd zugleich. Als Emilias prüfender Blick sie traf, wandte sie sich wie ertappt ab.
London, 1893
Er
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