Blood Romance 04 - Ruf der Ewigkeit
bemerkte zum ersten Mal, dass sie sich verändert hatte, als ihre Tränen ausblieben. Anfangs dachte Henry noch, Emilias Teilnahmslosigkeit sei nur der Schock und die Trauer würde spätestens auf der Beerdigung aus ihr herausbrechen. Aber ihre Augen blieben trocken. Die plötzliche Nachricht vom Tod ihres Vaters, der auf der Rückkehr seiner Geschäftsreise von Padua nach Florenz einen Herzinfarkt erlitten hatte, schien sie zwar erschreckt zu haben, jedoch nicht wirklich zu berühren.
Henry beobachtete seit ihrer Heimkehr nach London, wie Emilia stundenlang mit ausdrucksloser Miene aus dem Fenster starrte, und hörte sie des Nachts in ihrem Zimmer auf und ab laufen, als wartete sie voller Ungeduld auf etwas oder jemanden. Eines späten Abends, als Henry schon eingeschlafen war, trat sie unbemerkt an sein Bett und rüttelte ihn an der Schulter. »Henry! Henry, wach auf!«
Er richtete sich benommen auf. »Emilia ... Was ist los? Ist etwas passiert?«
»Ich fühle nichts mehr, Henry.«
»Was? Was meinst du damit?« Henry war mit einem Schlag hellwach. Emilia trug eine Kerze bei sich, die sie auf dem kleinen Tisch neben seinem Bett abstellte. Anschließend ließ sie sich auf seiner Bettkante nieder. Im Licht der sanft flackernden Flamme erschien ihm ihr blasses Gesicht beinahe durchsichtig.
»Ich fühle keine Trauer«, sagte sie. »Mein Vater ist tot, der wichtigste Mensch in meinem ... Leben. Ich werde ihn nie wiedersehen. Aber ... es tut nicht weh.«
Henry schwieg betroffen und nahm Emilias schmale Hand. Sie war eiskalt.
»Ich glaube, ich weiß, woran es liegt«, fuhr Emilia fort. »Es ist das Blut. Es hat mich vergiftet.«
»Welches Blut? Sein Blut?«
Emilia nickte und zog einen Zettel hervor. Henry erkannte die rote Handschrift sofort. Er hatte sie selbst unzählige Male studiert und kannte die Worte bereits auswendig. Dennoch lauschte er ihnen auch jetzt wieder mit größter Spannung, als hörte er sie zum ersten Mal.
»Es wird dich dürsten bald nach Blut,
du wirst es brauchen, um zu sein.
Doch Nahrung spenden Wolf und Reh,
die Gier nach Menschenblut bringt Pein.
Nur dann, wenn Liebe ist gewiss,
ein Herz zum Geben ist bereit,
tragt ihr den Sieg über die Zeit
und brecht den Fluch der Ewigkeit.«
Emilia ließ ihre Hand mit dem Brief sinken. »Hier steht es geschrieben und ich erinnere mich sogar daran, dass George es mir damals, in jener Nacht, prophezeit hat. Menschenblut stiehlt einem Unsterblichen die Gefühle und macht ihn zugleich hungrig nach mehr. Ich wollte es erst nicht wahrhaben, aber genau das ist eingetreten, Henry. Ich habe versucht traurig zu sein und zu weinen, aber ich kann es einfach nicht. Ich weiß nicht mehr, wie es geht, wie es sich anfühlt, verstehst du? Ich erinnere mich nicht mehr daran.
Dustin hat mich nicht nur mit seinem Schwur von Liebe und Treue belogen, er hat mir außerdem einen Teil meiner Menschlichkeit genommen. Alles, was ich im Moment noch in mir spüre, ist unbändiger Hass ihm gegenüber. Und dieses Gefühl wächst mit jedem Tag, es tut schon beinahe weh. Manchmal male ich mir einfach nur stundenlang aus, wie ich Dustin quälen und mich an ihm rächen könnte. Und wenn mein Hunger nach Menschenblut unerträglich wird und damit auch meine Sehnsucht nach echter, innerer Wärme, dann muss ich mich ablenken, um nicht aus dem Haus zu stürzen und dieses Verlangen zu stillen.
Ich glaube, ich werde langsam verrückt.« Die Verzweiflung stand Emilia ins Gesicht geschrieben. »Er hat alles kaputt gemacht, Henry. Dustin hat mich, mein Innerstes verändert. Und das werde ich ihm niemals verzeihen, niemals.«
Henry starrte Emilia voller Entsetzen an. Er hatte geglaubt, sie genau zu kennen, jeden einzelnen ihrer Gemütszustände. Er wusste, wann sie traurig war, fröhlich und manchmal auch missmutig oder verletzt, aber niemals hatte er sie derart verbittert erlebt. Dieser harte Gesichtsausdruck, der sich plötzlich über ihre mädchenhaften Züge gelegt hatte, jagte Henry Angst ein und ließ ihn frösteln. Wut breitete sich in ihm aus. Er ertrug es nicht, sie so sehen zu müssen.
»Wir werden deine Gefühle zurückholen, Emilia.« Henry sprang aus dem Bett und zog sich hastig an. »Ich werde dir dabei helfen, dich an sie zu erinnern und diesen Hunger nach Menschenblut zu vergessen. Außerdem ...«, er legte tröstend eine Hand auf ihre Schulter, »ist noch nichts verloren. Du kannst immer noch durch einen Menschen erlöst werden, Emilia. Durch jemanden, der dich nicht
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