Blood Romance 04 - Ruf der Ewigkeit
Tisch.
»Ja, danke.« May stand auf, zog sich ihre Jacke über und trat nach draußen. Es dämmerte bereits und ein kühler Windstoß ließ sie frösteln. Es roch nach Regen. Sie blickte die schmale Straße hinauf und hinunter. Nichts. Keine Spur von Jonathan oder seinem Auto. May zog ihren Reißverschluss zu und machte sich kurz entschlossen auf den Weg. Dann musste sie die Sache eben selbst erledigen, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte. Sie hoffte, dass sie die richtige Stelle auf Anhieb finden würde.
Dustin graute davor, erneut in die Nähe des Schlachtfeldes zu gelangen, aber seine Neugier trieb ihn weiter. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Der Wind trug ihm diese Tatsache mit einer bitter-süßlichen Note zu. Obwohl ihm jeder weitere Schritt schwerfiel, blieb er keinen Moment stehen, bis der Ort, an welchem er letzte Nacht den Brief an Emilia hinterlegt hatte, in sein Blickfeld trat. Er versuchte, das Grauen auszublenden und sich allein auf die Stelle zu konzentrieren, die ihn interessierte. Er sah schon von Weitem, dass der Zettel verschwunden war. Dustin blickte um sich, suchte nach einem Zeichen, einer Antwort. Nichts ... Doch da - plötzlich glaubte er, eine Bewegung wahrgenommen zu haben, schnell und geräuschlos wie ein einziger Lidschlag. Seine Augen schnellten zu der vermeintlichen Stelle und saugten sich daran fest, all seine Muskeln spannten sich an, machten sich bereit, in jedem Moment mit der richtigen Bewegung zu reagieren. Dustin wartete ab, regungslos, konzentriert, horchte in sich hinein. Sekunde um Sekunde verstrich. Keine warnende Stimme, kein innerer Aufruhr. In ihm blieb es ruhig.
Dustins Körper entspannte sich langsam wieder. Da war nichts. Nicht mehr, jedenfalls. Aber Emilia hatte allem Anschein nach seine Einladung erhalten und das war entscheidend. Dustin ging davon aus, dass sie sich ein Zusammentreffen mit ihm nicht entgehen lassen und ihm schon bald ein Zeichen geben würde. Auch sie rechnete fest mit einem Sieg. Auch sie fühlte sich stark und würde an einem Plan arbeiten, mit dessen Hilfe sie ihn überwältigen und demütigen wollte. Sie konnte schließlich nicht ahnen, dass er die stärkere Waffe in sich trug. Eine Waffe, die niemand außer ihm wahrnahm, die ihm Vertrauen schenkte und auf die er sich blind verlassen konnte.
Endlich war Dustin verschwunden. May wartete trotzdem noch eine Weile in ihrem Versteck, bevor sie sich wieder hervorwagte. Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig verstecken können und wäre um ein Haar in diese tiefe, kaum sichtbare Grube am Rande des Schlachtfeldes gestürzt. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte Dustin sie auf frischer Tat ertappt. Sie hätte sein Vertrauen für immer verloren. Zitternd tastete May nach dem Brief, den sie zum Glück nicht vor Schreck fallen gelassen, sondern hastig in ihre Jackentasche gesteckt hatte. Jetzt, wo sie hatte, was sie wollte, trieb es sie sofort wieder weg, fort von diesem Ort des Todes. Im Gehen konnte sie nicht umhin, sich noch einmal nach dem grauenhaften Blutbad umzudrehen. Mittendrin, auf einem Felsbrocken, hatte Dustins Botschaft an Emilia gelegen. May hatte den Zettel an sich genommen, innerlich wie gelähmt vor Entsetzen. Die Grausamkeit, mit der hier gemordet, gerissen und gemetzelt worden war, übertraf alles, was sie bisher gesehen und sich in ihren schlimmsten Vorstellungen ausgemalt hatte.
Ihr Magen begann zu rebellieren. Sie schloss die Augen und atmete einige Male ein und aus, um sich nicht übergeben zu müssen. Nie wieder würde sie dieses Bild aus ihrem Gedächtnis streichen können. Und zum ersten Mal stiegen leise Zweifel in May empor. Konnte dies wirklich Jonathans Werk sein? Ein Teil von ihr wünschte sich, dass es nicht so war.
Hier irgendwo musste der Sessel stehen. Sarah tastete sich mit weichen Knien vorwärts. Es war stockdunkel. Nur nichts umwerfen, bloß keinen Krach machen, beschwor sie sich. Am besten noch nicht einmal atmen ...
Gestern Abend hatte sie versucht, sich den Abstand zwischen ihrem Bett und dem Sessel genau einzuprägen, und war die Strecke in Gedanken an die hundertmal abgelaufen. Zwölf Schritte nach vorne, dann etwa vier nach links ... Ihr Fuß stieß geräuschvoll gegen etwas Hartes. Mist ... Sie blieb erschrocken stehen, lauschte, ob sie ihn geweckt hatte. Jonathan regte sich nicht, er atmete nach wie vor leise und gleichmäßig. Vorsichtig streckte Sarah ihre Hand aus. Hier musste seine Jacke sein. Jonathan hatte sie gestern
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