Blood Sun
Speiseplan standen.
Xavier, den die Trauer und die Strapazen völlig erschöpft hatten, schlief tief und fest. Max fühlte sich für ihn verantwortlich, gab sich aber keinen Illusionen hin, dass sie den Angriff eines Raubtiers überleben würden. In Afrika hatte er erlebt, wie Männer von Löwen verfolgt und getötet worden waren. Niemals würde er den entsetzlichen Anblick und die Schreie der Männer vergessen, als sie in Stücke gerissen wurden.
Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn. Lerne zu überleben, aber verlass dich nie auf deinen Mut. Manchmal musst du tief graben, um das zu finden, was das Leben für dich lebenswert mach t – doch wenn du es gefunden hast, wird es dir in schlimmen Situationen Kraft geben.
Einerseits tröstete ihn die Stimme seines Dads, andererseits wollte er nicht an den Mann denken, der seine Mutter im Sterben alleingelassen hatte. Max verzog schmerzgepeinigt das Gesicht, doch jetzt war keine Zeit für Gefühle. Jetzt musste er dafür sorgen, dass Xavier und er selbst die Nacht durchstanden. Über alles Weitere konnte er sich morgen Früh Gedanken mache n – wenn sie dann noch lebten.
Mit einem Mal drangen Lichtstrahlen durch das Gewirr der Bäume. Tieraugen glänzten, wenn das Licht sie traf. Das Tuckern eines Außenbordmotors zerriss die Stille. Die Küstenwache suchte offenbar nach Überlebenden. Max hörte ihre gedämpften Stimmen. Amerikaner. Systematisch, aber ohne Eile, hielten sie nach im Wasser treibenden Leichen Ausschau.
»Hier ist einer!«, rief eine Stimme.
Das Motorengeräusch veränderte sich. Max lauschte angestrengt. Sie waren etwa fünfzig Meter von der Küste entfernt. Der Strahl des Suchscheinwerfers zuckte hektisch hin und her und blieb dann ruhig. Max spähte durch die tief hängenden Zweige zu den schwankenden Schatten auf dem Wasser.
Einer der Männer fragte: »Was ist das? Dort drüben!« Die Lichter richteten sich nun auf eine bestimmte Stelle. »Krokodile! Die wollen sich den Toten holen, der da vorne im Wasser treibt!«
Zwei Schüsse krachten durch die Nacht. Die Männer stießen begeisterte Schreie aus und einer rief: »Salzwasserkrokodile! Habt ihr gesehen, wie groß das Vieh war? Wow!«
Xavier fuhr aus dem Schlaf, als die Schüsse über das Wasser schallten. Er schrie vor Schreck auf.
Max drückte dem Jungen eine Hand auf den Mund und flüsterte: »Schon gut, schon gut. Die suchen nach Überlebenden, die haben bloß auf irgendein Tier geschossen. Es ist alles in Ordnung.« Max brachte es nicht über sich, ihm von den hungrigen Krokodilen und dem Toten im Wasser zu erzähle n – es konnte gut sein, dass es sich dabei um Alejandro handelte.
Jemand schrie: »Okay, Leute! Holt sie an Bord!«
Das Wasser plätscherte lautstark, als sie die Leiche ins Boot zerrten. Max schauderte. Auch er war schon von Krokodilen angegriffen worden, aber bei der Vorstellung, wie diese Tiere nachts durch die Mangrovensümpfe streiften, um Alejandro und seine Leute zu fressen, drehte sich ihm der Magen um.
»Meinst du, die Yanquis sind wegen uns hier?«, flüsterte Xavier.
»Nein, die warten nur bis Sonnenaufgang, um bei Tageslicht noch mal alles abzusuchen. Bis dahin müssen wir hierbleiben, es wäre jedoch besser, wenn wir nicht auf dem Boden schlafen würden. Hier unten ist mir zu viel los.« Max deutete in den dichten Dschungel, dann packte er eine Liane und zog daran. Sie trug sein Gewicht mühelos.
»Wir müssen auf den Baum klettern«, sagte er. »Da sind wir sicher vor allem, was hier unten herumschleicht.«
Xavier stand vorsichtig auf. Es war ziemlich dunkel und er tastete sich wie ein Blinder vorwärts. Er prallte gegen Max und griff nach seiner Schulter.
»Max, wir wissen doch gar nicht, was da oben ist«, wisperte er ängstlich. »Hier im Dschungel gibt es Raubkatzen. Die klettern auf Bäume. Nirgendwo ist es sicher. Vielleicht sollten wir auf die andere Seite der Landspitze schwimmen.«
Xavier war mit den Nerven am Ende. Er wollte Max vor sich her in die Finsternis schieben, aber Max drehte sich um und drängte ihn an den Baum zurück. Xavier wehrte sich heftig und wurde aggressiv.
Max wusste, dass sie sich jetzt auf keinen Fall prügeln durften. Wenn sie sich auf dem Boden herumwälzten, würde das größere Tiere anlocken als die Insekten, die ihnen bereits um die Ohren surrten. Und der Suchtrupp auf dem Wasser war auch noch da. Der Junge hatte offensichtlich keine Ahnung, welche tödlichen Gefahren in einem Mangrovendschungel lauerten.
Weitere Kostenlose Bücher