Blood Sun
Bestimmt war er in einer Kleinstadt aufgewachsen und kannte nichts anderes als die Bars und Straßen, wo er Botengänge für seinen Bruder gemacht hatte. Xaviers Nervosität war nahezu greifbar.
»Das geht nicht und nachts schon gar nich t – denk an die Männer auf dem Boot.« Max hatte absolut keine Lust, durch das Wasser zu waten und sich einem Krokodil zum Fraß anzubieten. Sollte Xavier jetzt in Panik geraten, würden sie vielleicht beide sterben. Max hatte keine andere Wahl. Wenn er überleben wollte, musste er Xavier Angst einjagen.
»Sag mir nicht, was ich zu tun habe!«, schimpfte der Junge und versuchte ihn wegzustoßen.
»Hör gut zu!«, zischte Max. Er packte Xavier am T-Shirt und drehte es zu einem Knoten. Er musste ihn notfalls mit Gewalt davon abhalten, blindlings in die Nacht zu laufen. »Wir können über jede Minute froh sein, die wir hier heil überstehen. An morgen dürfen wir noch gar nicht denken. Wie wir hier rauskommen, können wir uns nachher überlegen. Wir bleiben hier und versuchen unser Bestes. Du willst weg? Ich mag aber weder Krokodile noch Wasserschlange n – und Männer mit Maschinengewehren noch viel weniger. Sie haben bereits die anderen getötet. Glaubst du, dich würden sie nicht auch einfach abknallen?«
Xaviers Widerstand ließ nach. Alejandro hatte ihn immer beschützt. Xavier hatte noch nie selbstständig denken müssen. Und wenn er es einmal tat, ging es gründlich schief. Das hatte sich schon in Miami gezeigt, als er nicht nur einen rivalisierenden Drogendealer gegen sich aufgebracht, sondern auch noch versucht hatte, mit der Polizei ein Abkommen zu treffen.
»Ich habe Durst, ich habe Schmerzen. Ich brauche Wasser«, wimmerte er.
Max zog ihn zu sich heran und drückte ihm die Liane in die Hände. »Wenn wir diese Nacht überstehen, werden wir morgen Früh Wasser suchen. Und jetzt rauf mit dir! In die Astgabel. Ich bleibe dicht hinter dir.«
Kaum hatte Max das gesagt, ließ ein schauriges Geräusch das Blut in ihren Adern gefrieren. Xavier klammerte sich an der Liane fest, wagte aber nicht, höher zu steigen.
»Weiter!«, rief Max, ohne an die Männer zu denken, die vielleicht noch in Hörweite waren. Das Geräusch steigerte sich zu einem grauenvollen Heulen und kam immer näher! Palmen und Sträucher raschelten, als etwas auf die beiden Jungen zuraste.
Max sträubten sich die Nackenhaare und es lief ihm eiskalt den Rücken herunter. Was war das? Xavier hatte sich immer noch nicht bewegt. Max versetzte ihm einen harten Stoß. Der Junge schrie vor Schmerz auf, gehorchte aber und kletterte die Liane hoch. Das Unterholz bebte, als sei dort etwas Gewaltiges im Gang e – das entsetzliche Heulen schwoll weiter an, bis es nahezu unerträglich war.
Der Suchscheinwerfer leuchtete in die Bäume. Dabei erblickte Max die Silhouette eines Tieres mit gelb funkelnden Augen und bluttriefenden Reißzähnen. Es war ein schwarzer Jaguar, der ein Paka, ein Nagetier von der Größe eines kleinen Hundes, zwischen seinen kräftigen Kiefern hielt und heftig schüttelte, um ihm das Genick zu brechen. Schließlich wandte die Raubkatze sich ab und verschwand mit ihrer Beute im Dickicht.
Der Suchscheinwerfer schwenkte durch die Nacht. Max und Xavier klammerten sich an die Liane. Sie hörten das Boot im seichten Wasser auf und ab fahren, hin und wieder glitt der Lichtstrahl über sie hinweg. Aber die Männer blieben still, niemand rief etwas, kein Schuss krachte in den Dschungel. Dann wurde aus dem langsamen Tuckern des Motors ein kräftiges Brummen. Und als das Boot durch das Riff aufs offene Meer hinausfuhr, wurde das Motorengeräusch immer leiser. Schließlich konnten die Jungen nur noch das Zirpen und Surren der Insekten hören.
Hatte der Jaguar sie gewittert? Vielleicht war das arme Paka nur zufällig zwischen sie und den Jaguar geraten, dachte Max, und der hatte sich für die leichtere Beute entschieden.
Sie könnten jetzt schon tot sein.
Trotz der drückenden Hitze begann Max zu zittern.
Das war knapp gewesen.
Es war die längste Nacht seines Lebens. Als im Morgengrauen die ersten schwachen Sonnenstrahlen durch das Blätterdach drangen, spähte Max mit müden Augen unter sich. Sein Gesicht war verquollen vom unruhigen Schlaf, seine Glieder steif nach den vielen Stunden in einer extrem unbequemen Haltung. Ein kräftiger Wind blies durch die Blätter, das Rauschen war fast so laut wie das Brausen der Brandung.
Er schüttelte Xavier, der erst stöhnte und sich dann hastig
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