Bloodlines: Die goldene Lilie (German Edition)
halten.«
»Wichtig? Sie ist wesentlich«, stellte ich fest. »Ich bin immer mindestens zehn Minuten zu früh da.«
Braydens Grinsen wurde breiter. »Ich versuche es mit fünfzehn. Um die Wahrheit zu sagen … ich wollte ohnehin kein Dessert.« Er hielt mir die Tür auf, als wir hinaustraten. »Ich versuche, nicht zu viel Zucker zu mir zu nehmen.«
Beinahe erstarrte ich vor Erstaunen. »Ich gebe dir völlig recht – aber meine Freunde ärgern mich deshalb immer.«
Brayden nickte. »Es gibt alle möglichen Gründe. Aber die Leute kapieren es einfach nicht.«
Benommen ging ich in den Park. Niemand hatte mich je so schnell und so leicht verstanden. Es war, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Palm Springs war eine Wüstenstadt mit weiten Sandflächen und schroffen, felsigen Berghängen. Aber es war auch eine Stadt, die die Menschen über eine lange Zeit hinweg gestaltet hatten, und vieles darin – die Amberwood zum Beispiel – war, dem natürlichen Klima zum Trotz, üppig begrünt worden. Dieser Park stellte keine Ausnahme dar. Einen sehr weitläufigen grünen Rasen umgaben statt der üblichen Palmen sommergrüne Laubbäume. An einem Ende des Rasens hatte man eine Bühne errichtet, und die Leute suchten sich bereits die besten Plätze. Wir entschieden uns für einen Schattenplatz, der eine großartige Sicht auf die Bühne bot. Brayden holte aus seinem Rucksack eine Decke heraus, auf die wir uns setzen konnten, und dazu ein abgegriffenes Exemplar von Antonius und Kleopatra. Es war nur so übersät von Notizen und Klebezetteln.
»Hast du dein eigenes Exemplar mitgebracht?«, fragte er mich.
»Nein«, antwortete ich. Ich musste einfach beeindruckt sein. »Ich habe bei meinem Umzug hierher nicht viele Bücher von zu Hause mitgenommen.«
Er zögerte, als wisse er nicht genau, ob er aussprechen solle, was er dachte. »Willst du bei mir mitlesen?«
Um ehrlich zu sein, war ich davon ausgegangen, dass ich mir einfach das Stück ansehen würde, aber die Wissenschaftlerin in mir erkannte natürlich die Vorteile, die es hatte, gleichzeitig den Text mitzulesen. Zudem war ich neugierig auf die Notizen, die er gemacht hatte. Erst nachdem ich zugestimmt hatte, wurde mir klar, warum er nervös war. Wenn ich mit ihm im selben Buch las, mussten wir sehr, sehr nahe beieinander sitzen.
»Ich beiße schon nicht«, bemerkte er und lächelte, als ich mich nicht sofort rührte.
Durch diese Bemerkung löste sich die Anspannung, und wir brachten uns in eine Position, die es uns ermöglichte, beide in das Buch zu schauen und uns fast nicht zu berühren. Es ließ sich allerdings nicht vermeiden, dass unsere Knie aneinanderstießen. Doch wir trugen beide Jeans, und ich hatte nicht das Gefühl, als sei meine Tugend in Gefahr. Außerdem kam ich nicht umhin zu bemerken, dass er nach Kaffee roch – meinem Lieblingslaster. Nicht schlecht. Überhaupt nicht schlecht.
Trotzdem war mir überdeutlich bewusst, dass ich einer anderen Person so nahe war. Ich glaubte , keine romantischen Schwingungen zu empfangen. Mein Puls raste nicht; mein Herz flatterte nicht. Im Wesentlichen blieb die Tatsache, dass ich noch nie zuvor so dicht neben jemandem gesessen hatte – vielleicht in meinem ganzen Leben noch nicht. Ich war es nicht gewohnt, meine unmittelbare Umgebung derart zu teilen.
All das vergaß ich jedoch schnell, als das Stück begann. Brayden mochte es nicht gefallen, wenn Shakespeare in moderner Kleidung aufgeführt wurde, aber ich fand, dass die Schauspieler ihre Aufgabe in bewundernswerter Weise erfüllten. Da wir mitlasen, fiel uns einige Male auf, dass sie ab und zu eine Zeile vermasselten. Heimlich warfen wir einander triumphierende Blicke zu, voller Freude darüber, dass wir etwas wussten, das andere nicht ahnten. Ich verfolgte auch Braydens Anmerkungen, nickte bei einigen und schüttelte bei anderen den Kopf. Ich konnte es gar nicht erwarten, all das auf der Rückfahrt zu besprechen.
Während Kleopatras dramatischer Sterbeszene beugten wir uns alle aufmerksam vor, zutiefst konzentriert auf ihre letzten Zeilen. Neben mir hörte ich das Knistern von Papier. Ich ignorierte es und beugte mich noch weiter vor. Das Papier knisterte abermals, diesmal viel lauter. Als ich hinüberschaute, sah ich eine Gruppe von Jugendlichen in der Nähe sitzen, ungefähr im Collegealter. Die meisten sahen der Aufführung zu, aber einer hielt etwas in der Hand, das in eine braune Papiertüte gewickelt war. Die Tüte war zu groß für den Gegenstand und
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