Bloodlines - Mead, R: Bloodlines - Bloodlines
unserer ersten Begegnung so geringschätzig über meine Tätowierung ausgelassen hatte. Aber ich fragte mich, warum er sich so sehr dafür interessierte, dass er sie dazu bringen wollte, den Laden zu schließen. Das war nicht nur eine beiläufige Meinungsverschiedenheit.
»Er hält es wohl für unfair?«, meinte ich diplomatisch.
»Meiner Meinung nach ist er bloß neidisch, weil er sich keine leisten kann«, sagte Julia. »Übrigens hat er auch eine Tätowierung. Eine Sonne auf seinem Rücken. Aber es ist eine gewöhnliche, schwarze – nicht golden wie deine. So etwas wie deine hab ich noch nie gesehen.«
»Deshalb habt ihr also geglaubt, meine Tätowierung würde mich klug machen«, erwiderte ich.
»Das hätte während der Abschlussprüfungen wirklich nützlich sein können«, seufzte Julia sehnsüchtig. »Du bist wirklich sicher, dass dies nicht der Grund ist, warum du so viel weißt?«
Ich lächelte, trotz meines Entsetzens über das, was ich gerade erfahren hatte. »Schön wär’s. Das würde es mir vielleicht erleichtern, dieses Buch durchzuackern. Was«, fügte ich mit einem Blick auf die Uhr hinzu, »ich langsam tun sollte.« Das Buch handelte von griechisch-römischen Priestern und Magiern, es war eine Art Zauberbuch, das die Zauber und Rituale beschrieb, mit denen sie gearbeitet hatten. Zwar war es nicht gerade eine grässliche Lektüre, aber das Buch war schon ziemlich dick. Ich hatte geglaubt, Ms Terwilligers Forschungen würden sich mehr auf die gängigen Religionen in dieser Epoche konzentrieren, daher schien mir das Buch eine merkwürdige Wahl zu sein. Vielleicht hoffte sie, ein Kapitel über alternative magische Praktiken in ihr Werk mit aufnehmen zu können. Wie auch immer, wer war ich denn, sie anzuzweifeln? Wenn sie darum bat, würde ich aber danach fragen.
Ich harrte länger aus als Kristin und Julia, da ich so lange bleiben musste, wie Ms Terwilliger blieb, nämlich bis zur Schließung der Bibliothek. Sie schien sich darüber zu freuen, dass ich mit den Notizen so weit gekommen war, und eröffnete mir, dass sie das ganze Buch gern in drei Tagen bearbeitet hätte.
»Ja, Ma’am«, sagte ich automatisch, als hätte ich keine anderen Kurse an dieser Schule. Warum sagte ich immer ja, ohne erst zu überlegen?
Ich kehrte auf den Ostcampus zurück, mit trüben Augen von der ganzen Arbeit und erschöpft bei dem Gedanken an die Hausaufgaben, die noch auf mich warteten. Jill schlief tief und fest, was ich als einen kleinen Segen hinnahm. Ich würde mich ihrem anklagenden Blick nicht stellen oder herausfinden müssen, wie ich mit dem verlegenen Schweigen umgehen sollte. Rasch zog ich mich um und schlief schnell und leise ein, nämlich fast in dem Augenblick, als ich das Kissen berührte.
Gegen drei Uhr weckte mich ein Weinen. Ich schüttelte meine schläfrige Benommenheit ab und sah Jill aufrecht in ihrem Bett sitzen, das Gesicht in den Händen begraben. Ein gewaltiges Schluchzen erschütterte ihren Körper.
»Jill?«, fragte ich unsicher. »Was ist los?«
In dem schwachen Licht, das von draußen kam, sah ich, dass Jill den Kopf hob und mich anschaute. Außerstande zu antworten, schüttelte sie den Kopf und begann schon wieder zu weinen, diesmal noch lauter. Ich stand auf und setzte mich auf die Kante ihres Bettes. Ich konnte mich nicht ganz dazu überwinden, sie zum Trost in den Arm zu nehmen oder auch nur zu berühren. Trotzdem fühlte ich mich schrecklich. Das musste meine Schuld sein.
»Jill, es tut mir so leid. Ich hätte nicht zu Adrian fahren sollen. Als Lee dich erwähnt hat, hätte ich es dabei bewenden lassen und ihm sagen sollen, dass er mit dir reden solle, wenn er Interesse hätte. Ich hätte überhaupt zuerst mit dir sprechen sollen … « Meine Worte überschlugen sich. Wenn ich sie ansah, konnte ich nur an Zoe und ihre schrecklichen Anschuldigungen in der Nacht meines Aufbruchs denken.
Irgendwie gingen meine Hilfsversuche immer nach hinten los.
Jill schniefte, dann brachte sie einige Worte heraus, bevor sie wieder zusammenbrach. »Das … das ist es doch nicht … «
Ich betrachtete sie hilflos und war von mir selbst und ihren Tränen erschüttert. Kristin und Julia hielten mich für übermenschlich klug. Doch ich war mir sicher, dass jede von ihnen Jill hundertmal besser hätte trösten können als ich. Ich streckte die Hand aus und tätschelte ihr beinahe den Arm – zog sie jedoch im letzten Moment wieder zurück. Nein, ich konnte das nicht. Diese Alchemistenstimme in mir,
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