Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
meinen Beinen schielen und der Region, mit der man Kinder zeugt. Ich habe auch ein Foto von Emely dabei, damit klar ist, dass außer Sport auch noch einiges mehr geht.
Als ich in dem Alter war, bin ich oft Samstagmorgens – trotz schulfrei! – um 5.30 Uhr aufgestanden, um mit einem der ersten Busse zur 15 Kilometer entfernten Eishalle zu fahren. Ich wollte der Erste sein, wenn die Halle um 7 Uhr öffnet und das Eis noch jungfräulich und unberührt ist. Diese glatte Fläche, auf der meine Kufen ihre Muster und Linien zogen, die wollte ich ganz für mich haben. Ich wollte meine Spuren hinterlassen und dafür nahm ich das frühe Aufstehen gern in Kauf. Und natürlich lief in der Halle immer auch Musik. Dirty Dancing und was man so Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre hörte. An diese Eislaufphase habe ich schöne Erinnerungen. Wenn ich das in den Schulen erzähle, sind die Jugendlichen immer sehr erstaunt. Sie können das kaum begreifen: so früh aufstehen, nur um Sport zu machen! Klar, die Zeiten waren anders. Fitnesstempel, die beinahe rund um die Uhr geöffnet haben, gab es noch nicht. Es gab Vereine und Freibäder, die noch nicht von der Schließung betroffen waren. Wenn man Sport machte, dann kam man oft ins Gespräch. Ich sowieso, denn
ich wollte lernen und von den Besseren profitieren. In der Eishalle beobachtete ich zum Beispiel immer einen, der so richtig toll fahren konnte. Ich schätze mal, der war aus der Eishockey-Mannschaft. Der konnte bremsen, indem er die Schlittschuhe quer stellte, sodass es eine Eisfontäne von 2 Metern Höhe gab, die dann nicht selten süße Mädchen einhüllte, die natürlich gerade zufällig vorbei fuhren. Das war unglaublich! Aber ich habe das leider nie hingekriegt. Manchmal zeigte er mir einen Schritt, aber ganz ehrlich: Ich habe mehr abgeschaut als abgefragt. Eislaufen, Rennen, Tischtennis, Fahrrad fahren – Sport hat mir immer viel Spaß gemacht. Es ist gesellig, wenn man mit anderen rumrangelt. Und dann packt einen der Ehrgeiz; man will schauen, wer hier auf dem Feld der Beste ist. Sport ist für mich pure Action. Auch heute noch!
»Ein Mensch mit Behinderung kann genauso gesund und krank sein wie ein nicht-behinderter Mensch. Das will aber irgendwie nicht in die Köpfe der Leute hinein. Behinderung wird immer noch als in erster Linie medizinisches Problem angesehen, nicht als gesellschaftliches«, schreibt die Rollifahrerin Christiane Link in ihrem Blog Behindertenparkplatz und diskutiert hier die sportliche Karriere sowie die gesellschaftlichen Einschränkungen des Sprint-Weltrekordhalters Oscar Leonard Carl Pistorius aus Südafrika, auch »fastest man on no legs« genannt. Oscar Pistorius fehlten durch einen Gendefekt die Wadenbeine und die äußeren Seiten der Füße. Im Alter von elf Monaten wurden ihm die Beine unterhalb der Knie amputiert. Durch speziell für ihn angefertigte Prothesen ist er in der Lage zu laufen und nimmt sogar an Sprintwettbewerben für Nicht-Behinderte teil – wie 2012 bei den Olympischen Spielen in London.
Dies veranlasste den Deutschen Leichtathletik-Verband jedoch zu großer Sorge um die »Natürlichkeit« des Sports.
In Großbritannien sehe man das allerdings ganz anders, schreibt Christiane Link weiter, im Telegraph werde Pistorius als »sportlicher Held« gefeiert. In Großbritannien bezeichnet übrigens auch kein Nachrichtensprecher nicht-behinderte Sportler als »gesund«; hier liegt der Wahrnehmungs- und Bewertungsschwerpunkt eindeutig auf den gesellschaftlichen, nicht auf den physischen Auswirkungen einer Behinderung. Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), wird von stern.de wie folgt zitiert: »Bei aller Wertschätzung für Pistorius, aber durch seinen Start verliert die Leichtathletik ihre Identität. Leistung ist nicht mehr die Summe aus Talent und Training.« Die IAAF, der Dachverband aller nationalen Sportverbände für Leichtathletik, entschied auf Grundlage eines unvollständigen Gutachtens, angefertigt vom Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann von der Sporthochschule Köln, dass Pistorius an den Olympischen Spielen 2008 in Peking nicht teilnehmen dürfe. Der Internationale Sportgerichtshof CAS hob jedoch am 16. Mai 2008 die Entscheidung auf, da in der Studie lediglich die unbestrittenen läuferischen Vorteile Pistorius’ umfassend dargelegt werden, während dessen Nachteile in anderen Aspekten des Laufes – Umwelteinflüsse, Kurvenverhalten, Startmechanik – unzureichend
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