Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Behinderung eben kein Phänomen der Neuzeit ist, sondern weil es das schon immer gab. Der Deutsche Rollstuhl Sportverband hat zum Beispiel über 6.500 sporttreibende Mitglieder, die in mehr als 270 Vereinen organisiert sind. Und natürlich gibt es spezielle Trainer und Förderungen.
Ich habe aber diese Unterstützungen nie in Anspruch genommen, weil die oft so lächerlich bescheiden waren. Auch mit der Deutschen Sporthilfe konnte ich nichts anfangen. Es ist ja schon ein Wunder, dass du zur Olympia-Teilnahme nichts selbst dazuzahlen musst. Und selbst das war mal anders.
Mit der Zeit lernte ich viele Fahrer kennen, die noch eingeschränkter lebten als ich und die dennoch sportlich aktiv waren. Das hat mich darin bestärkt, mich zu fordern. So wie ich auch heute andere Menschen fordere, wenn ich rufe »Hintern hoch!« – und das meine ich durchaus auch emotional und nicht nur, wenn es um sportliche Themen geht.
Behinderung verarbeiten heißt auch, die Behinderung zu akzeptieren. Tatsache ist: Man muss damit klar kommen, dass einen die Leute anglotzen. Und das kann man nunmal nur, wenn man sein Schicksal verarbeitet und akzeptiert hat.
Mich hat das anfangs selbst große Überwindung gekostet; vor allem im Schwimmbad, wenn es galt, ohne Beine zu schwimmen. Das musste ich einige Male üben und mir wäre es sicher
leichter gefallen, hätte ich dabei nicht die ganze Zeit das Gefühl gehabt, unter »Beobachtung« der anderen Badegäste zu stehen. Obwohl die in Wahrheit viel lieber sehen wollen, wie du vom Rolli ins Becken und wieder raus kommst. Das ist es, was die Leute interessiert. Nicht wie du schwimmst, sondern wie du es schaffst, von deiner Karre da ins Wasser zu kommen. Mittlerweile kann ich da allerdings keine große Showeinlage mehr bieten, weil ich den Schwung längst drauf habe. Deswegen macht es mir inzwischen auch nichts mehr aus, schwimmen zu gehen. Übung macht den Meister – nicht nur beim Schwimmen an sich, sondern auch, was das »dicke Fell« angeht, das Menschen mit Behinderung auch dazu brauchen.
Mein erstes großes sportliches Erfolgserlebnis war tatsächlich der Heidelberg-Marathon. Hier landete ich auf Platz 20 – und war unglaublich stolz. Aber doch nicht ganz zufrieden, denn noch gab es einige, die besser waren als ich, und das entfachte meinen Ehrgeiz. Ich wurde professioneller und absolvierte über den ganzen Winter ein seriöses, aber stinklangweiliges Rollentraining.
An regnerischen Herbst- und kalten Wintertagen baute ich mein Trainingsequipment, damit es nicht all zu langweilig wurde, immer vor dem Fernseher auf. Es kam nicht darauf an, was grade lief, sondern nur auf die Tatsache, dass ich abgelenkt wurde. So biss ich mich monatelang durch und sollte schon bald feststellen, dass das harte Training sich lohnte – beim Gutenberg-Marathon in Mainz, einem Halbmarathon. Am großen Tag standen meine Großeltern an der Strecke, feuerten mich an und jubelten mir zu, als ich nach 22 Kilometern als sechster mit einer recht passablen Zeit im Ziel eintraf. Der damalige Bundestrainer, der den Lauf verfolgte, wurde auf
mich aufmerksam und nur kurze Zeit später konnte ich stolz meinen Freunden vom Hockenheim-Ring berichten: »Ich trainiere jetzt für die deutschen Meisterschaften.« Endlich hatte ich ein richtiges Ziel vor Augen, für das ich richtig Gas geben wollte. Und dafür hing ich von nun an noch öfter auf meinem Fahrrad, drehte auf dem Hockenheim-Ring meine Runden und war den anderen Jungs immer häufiger voraus.
Das kam natürlich nicht vom Däumchendrehen, sondern von meinem Kampfeswillen. Jeden Tag war ich damals mit dem Rad unterwegs, von Heddesheim ab hoch zum Heidelberger Schloss.
Zwischen Start und Etappenziel, dem Schloss, lag ein steiler Berg, der die Sache ganz schön anstrengend machte. Die Aussicht ins Neckartal war es aber allemal wert und jeder Kilometer ging ungefiltert als Kraft in meinen Körper und Geist über. So konnte ich durchhalten und fuhr dann als Geheimtipp im Sommer 2002 zur deutschen Meisterschaft. Im Einzelzeitfahren landete ich auf Platz zwei und im Straßenrennen, das meine Paradedisziplin war, gewann ich sogar Gold!
Danach war ich so motiviert, dass ich gleich das nächste Ziel ins Auge fasste: die Weltmeisterschaft im Spätsommer 2002 in Altenstadt. Dafür wurde dann noch einmal zwei Monate hart trainiert. Jeden Tag, bei Wind und Wetter. Selbst bei strömendem Regen und Gewitter radelte ich zum Heidelberger Schloss. Anschließend kam ich immer
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