Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
gibt keine Außenseiter mehr und niemanden, der »anders« ist und damit »nicht wie wir«.
Meine Tochter nahm erst ab dem Moment wahr, dass ich behindert bin, als andere Kinder zu ihr sagten: »Dein Papa hat ja gar keine Beine!« Als sie etwa zwei oder zweieinhalb Jahre alt war, fragte sie mich abends beim Vorlesen, warum das so sei. Ganz positiv und neutral war die Frage, denn sie kannte es ja nicht anders. Da habe ich ihr erklärt, dass ich einen Unfall hatte und man danach die Beine abnehmen musste. Das war dann erst einmal ok für sie. Aber schon bald fiel ihr eine neue Frage ein: »Warum musste man die Beine denn abnehmen? Und wo sind die jetzt, die Beine?« Ich habe ihr gesagt, dass die wahrscheinlich verbrannt worden sind, weil die ja kaputt waren und man sie nicht mehr gebrauchen konnte.
Je älter Emely wurde, desto mehr Fragen stellte sie, und desto genauer wollte sie wissen, wie das alles passiert ist. Ich habe ihr dann von meinem Motorradunfall erzählt, dass ich auf die Straße gefallen bin, dass ein Lastwagen kam und über mich drüber gefahren ist. Ich habe es ihr einfach so erzählt, wie es war, ohne besondere Dramatik. Danach hat sie sich, selbstbewusst wie sie ist, im Kindergarten vor die anderen Kinder gestellt, wenn die mal wieder nach meinen Beinen gefragt haben, und gesagt: »Mein Papa hat einen Unfall gehabt und deswegen sind die Beine ab.« Damit war das Thema für sie erledigt. Sie sieht mich jeden Tag ohne Beine. Und es macht ihr überhaupt nichts aus. Warum auch? Sie liebt ihren Vater so, wie er ist. So wie ich mein Kind liebe, wie es ist.
Emely schnappt viel auf von meinem Leben mit Behinderung.
Wenn wir im Auto zusammen unterwegs sind und ich mich aufrege, dass wieder mal Autos ohne blauen Parkausweis auf dem Behindertenparkplatz stehen, bekommt Emely das natürlich mit. Irgendwann gehe ich dann mal nichts ahnend mit ihr durch die Stadt. Bei einem Behindertenparkplatz schaut sie auf die Zeichen und die Autos und macht mich plötzlich aufmerksam: »Papa, der darf da gar nicht stehen, der hat überhaupt keinen Ausweis!« Ich finde es gut, wenn mein Kind darauf achtet – das gehört für mich zum Inklusionsgedanken dazu. Mein Kind wächst mit einem behinderten Vater auf und hat auch schon andere Menschen mit Handicap kennen gelernt. Mit ihnen hat sie ebenso kein Problem. Am Anfang kam natürlich immer wieder ein: »Guck mal, Papa, der sitzt auch im Rollstuhl.« Oder sie wollte wissen, warum jemand im Rollstuhl saß, obwohl er noch Beine hatte. Für sie war »Rollstuhl« zunächst gleichbedeutend mit »keine Beine haben«. Da habe ich ihr erklärt, dass der eben eine andere Behinderung hat als ich und deswegen mit Beinen im Rollstuhl sitzt. Fertig. Thema abgehakt.
Kinder rutschen übrigens in der Regel nicht in die Respektlosigkeit; das ist eher ein Verhalten von Erwachsenen. Kinder behandeln dich anständig. Sie sind zwar direkt, überschreiten aber keine Grenzen und werten nicht ab. Wenn die Kinder ihren Eltern von ihrer Begegnung mit mir erzählen, wirken sie oft wie ein Katalysator zwischen den erwachsenen Eltern und mir als Mann mit Handicap. Kinder nehmen Erwachsenen etwas ab, denn sie schauen und berichten dann davon, was sie gesehen haben. Erwachsene sagen empört: »Schau da nicht hin!«, aber nur wenn man hinschaut, kann man fragen und die Eltern sehen, dass die freundliche Neugier ihrer Kinder Verbindungen schafft.
Als Vater weiß ich heute, wie extrem wichtig es ist, den Kindern immer Antworten zu geben, ob man nun behindert ist oder nicht. Kinder sind wie ein trockener Schwamm, eine unbeschriebene Festplatte. Wenn du ihnen nichts lieferst zum Draufspeichern, dann bleiben sie leer, also unwissend. Und als Mensch mit Behinderung musst du den Kindern noch mehr Futter geben. Das ist das Wichtigste: Reden, Erklären, Vorleben, Antworten geben und wenn nötig dutzendmal wiederholen.
Als die Mutter meiner Tochter Emely und ich Eltern wurden, haben wir uns gegenseitig die Angst genommen, das nicht hinzukriegen . Wir haben uns ermutigt, dass wir es schaffen werden, denn der Wunsch, ein Kind zu haben, war bald viel größer als jede Angst. Wir sind beide von unseren Eltern zu jeder Zeit unterstützt und gefördert worden, in allen Bereichen. Deswegen hatten wir ein Urvertrauen – es war klar, dass wir unserem Kind viel zu geben haben würden.
Menschen aus unserem Umfeld, die Bedenken geäußert haben, dass ich Vater werden wollte, gab es nicht. Und ich hätte denen auch
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