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Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)

Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)

Titel: Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Sitzmann
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Schulen sind diesbezüglich störungsfrei. Das soll heißen, dass die Anzahl von Schulen, die Kinder mit Behinderung aufnehmen, verschwindend gering ist. Das mag an den baulichen Bedingungen liegen, die oft den Gesetzen der Barrierefreiheit widersprechen – weil ein Umbau angeblich nicht möglich oder viel zu teuer ist. Meines Erachtens liegt es aber vielmehr daran, dass es auch im Jahr 2012, trotz einer enormen Medienvielfalt, noch immer Berührungsängste gibt. Menschen mit Behinderung haben die weniger, denn schließlich sind es gesunde Menschen, die sich nach einem Unfall um dich kümmern und dich pflegen. Man gewöhnt sich daran, dass andere Menschen Füße haben und man selbst nicht. Die alltägliche Begegnung unterstützt sogar darin, mit der Behinderung zurecht zu kommen. Auch Menschen mit Füßen sind manchmal traurig oder haben miese Laune. Zu erkennen, dass Füße nicht alles sind im Leben, hilft schon einen großen Schritt weiter.

    In Kindern sah ich nach meinem Unfall ein ganz besonderes »Trainingslager«, denn der Dialog mit ihnen ist sehr direkt und unverblümt. Das kann man gut nutzen, wenn man aus der Reha-Waldeslust wieder unter Menschen kommt. Kinder machen dich stark – wenn du es zulässt. Sie schauen dich an und stellen ihre Fragen, ohne groß zu überlegen, ob sie dir damit zu nahe treten oder nicht. Sie wollen eine Erklärung hören, damit sie verstehen können, warum da optisch etwas fehlt. Und das ohne Filter, ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche Gefühle, ganz ohne umgangssprachliche Floskeln. Kinder reden nicht um den heißen Brei herum. Sie wollen alles wissen, unter anderem auch, wie ohne Beine pinkeln geht und ob meine Kinder (damals hatte ich meine Tochter noch nicht) auch ohne Beine auf die Welt kommen. Sie sehen, dass da irgendwas anders ist, und möchten wissen, wie es sich dennoch lebt in dieser Welt auf vier Rollen.

    Barrierefreiheit setzt voraus, dass nicht nur Formulare an wirkliche Bedürfnisse angepasst werden, sondern dass ein Austausch stattfindet. Menschen spielen und lernen miteinander, und das fängt am besten ganz früh im Leben an. Bereits in den 70er-Jahren gab es Schulen für behinderte und nicht-behinderte Kinder. Die Inklusion – damals Integration genannt – verlief jedoch träge und wurde nur von wenigen klischeehaften Sozialpädagogen in Birkenstocksandalen wirklich ernst genommen. Nicht nur die Schulen, sondern das gesamte Bildungswesen musste sich verändern und erweitern für das Klassenziel Inklusion. Und zwar nicht nur in baulicher Hinsicht; auch die Lehrer sollten umfangreicher ausgebildet werden, um für jeden Schüler, ob mit oder ohne Behinderung, einsetzbar zu sein.
    Trotz der Fortschritte in und seit den 70er-Jahren ist die generelle Schul-Inklusion aber heute immer noch ein Traum. In den meisten Schulen werden nicht-behinderte und behinderte Kinder auch heute nicht miteinander konfrontiert.

    Ich lerne aus Begegnungen. Ich lerne, in welchen Punkten ich schwach bin und in welchen stark. Meine Reaktion auf die Kinderfragen zeigte mir auf, dass ich ganz offensichtlich meine Behinderung akzeptiert hatte, denn ich ging fröhlich und frei mit dem Wissensdurst rund um mein fehlendes Gehgestell um. Als die ersten Treffen mit Kindern vorbei waren, da wusste ich: »Jetzt kann man mich auf die Menschheit loslassen!«
    Der Umgang mit Kindern ist ein sehr gutes Übungsfeld, um Antworten zu proben, Blicke auszuhalten, mit Scheu umzugehen und auch, um mit der eigenen Behinderung in Kontakt zu kommen, sie immer weiter aufzuarbeiten und schließlich zu akzeptieren. Ich lernte mit den Kindern, dass Normalität entsteht, wenn man ihnen ganz einfach Antworten auf ihre Fragen gibt, wenn man ganz normal mit ihnen spielt, rumtobt, sie auch mal im Rolli fahren lässt. Abends habe ich ihnen Geschichten vorgelesen und auf der Gitarre vorgespielt. Alles ganz unkompliziert. Die Kinder konnten dadurch begreifen, dass Behinderung etwas Natürliches ist, und dass Menschen im Rollstuhl keine Monster sind und auch nicht beißen. Selbstverständlich müssen sich nicht alle behinderten Menschen sofort solcher kindlichen Neugierde aussetzen, aber irgendwann ist es sicher hilfreich. Für mich waren diese Begegnungen quasi der »Abschlusstest« für meine noch relativ neue Rollstuhlfahrer-Karriere.

    Meine erste Begegnung mit einer Kindergruppe nach meinem Unfall war 1995. Zu diesem Zeitpunkt saß ich seit genau
drei Jahren im Rollstuhl. Es war im Rahmen einer Kinderfreizeit.

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