Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
dafür, denn die Marschrichtung war jetzt klar. Wir beide sind Menschen der Tat und mögen keine halben Sachen – das schweißt einmal mehr zusammen.
Annika hat mich in diesen ersten Treffen »ausgecheckt«. Mit einem Behinderten derart zusammen zu sein, das war für sie ja neu und es galt, ein paar Grundfragen zu klären. Ein gutes Gefühl allein kann bei diesen unterschiedlichen Grundvoraussetzungen nicht reichen, um Vertrautheit zu schaffen. Hier war Offenheit wichtig!
Muss ich diesem Mann jetzt jede Kaffeetasse hinterher tragen oder kriegt der trotz Rollstuhl auch mal was alleine hin? Werde ich den gesamten Haushalt an der Backe haben oder beteiligt er sich daran? Doch nachdem sie mich in meinem kleinen Reich und auch mit Emely erlebt hatte, war alles klar. Sie konnte sich davon überzeugen, dass ich Ordnung liebe und mein Leben im Griff habe, und das Thema war schnell abgehakt.
Dass ich auch Fragen an sie hatte, hat sie erst einmal erstaunt. Ich habe ihr zum Beispiel erklärt, dass ich überhaupt kein Typ für eine Fernbeziehung bin. »Die 85 Kilometer zwischen uns sind mir definitiv zu viel. Und wenn wir auf Dauer ein Paar sein wollen, musst du irgendwann in meine Gegend ziehen, denn ich habe hier meine Tochter Emely und möchte immer für sie da sein können.« Eine Lösung zu finden, war nicht weiter schwierig. Wohl deshalb, weil alles direkt auf den Tisch kam und noch heute kommt – das kann ich übrigens nicht nur in »gemischten« Beziehungen raten, sondern jedem Paar, das sich frisch zusammentut! Je deutlicher man von Beginn
an bespricht, was man braucht, damit eine Beziehung funktioniert, desto schneller stellt man fest, ob man zusammen passt und ob man gemeinsam leben kann. So kamen von ihr zum Beispiel auch Fragen, wie es funktioniert, ins Auto einzusteigen, oder wie man im Rollstuhl einen Wischmopp führt, ohne sich dabei im Kreis zu drehen. Wie kauft man im großen Stil ein, wenn man seine Hände eigentlich zur Fortbewegung braucht, und wie bekommt man den ganzen Kram dann von der Garage in die Wohnung? Eine ihrer Herzensfragen war auch, ob ich mir ein weiteres Kind vorstellen könnte. Und ich kann. Die anderen, eher alltäglichen Dinge ergaben sich dann später schnell von selbst.
Annika ist mit ihrem geregelten Kreislauf in meinen geregelten Kreislauf gekommen. Beide Kreisläufe haben sich verbunden. Ich war geübt in allen Handgriffen, denn als Vater bin ich es ja gewohnt, trotz meines Handicaps nicht nur Verantwortung für mich selbst zu tragen, einkaufen zu gehen, zu putzen. Mittlerweile wohnen wir seit einer ganzen Weile zusammen und natürlich nimmt Annika mir hin und wieder verschiedene Dinge ab. Das genieße ich auch. Aber wir achten darauf, dass unser Zusammenleben ausgewogen ist, sodass jeder von uns beiden autark bleibt. Obwohl wir emotional eng verbunden sind und uns etwas Tolles zusammen aufbauen wollen, hat jeder von uns weiterhin auch sein eigenes Leben. Niemand muss sich dem anderen unterordnen, niemand sich in seiner Planung einschränken, weil er sich ständig um den anderen kümmern muss. Besonders für mich war es wichtig, meine Autonomie zu bewahren, die ich mir in all den Jahren zuvor erarbeitet habe – ich will mich nicht auf Annikas Hilfsbereitschaft ausruhen. Bevor wir uns kennen gelernt haben, hatte jeder sein Leben allein im Griff und so soll es auch bleiben: Jeder macht sein Eigenes, und die große Schnittmenge, die
wir haben, gestalten wir zusammen. Wenn hier ein Ungleichgewicht entsteht, wird man ganz schnell unzufrieden und das wirkt sich negativ auf die Zweisamkeit aus.
Mit Tugenden bestückt wie Respekt, dem Verständnis für die persönlichen Schwierigkeiten, von Zeit zu Zeit viel Geduld, Liebe zum anderen und einfach einer Offenheit gegenüber ungewohnten Hürden kann aus meiner Sicht jede Beziehung, ob mit Handicap oder ohne, eine erfüllte Partnerschaft werden.
KAPITEL 7
Kinder
Ich bin gern mit Menschen zusammen. Das beinhaltet für mich besonders den Kontakt mit Jugendlichen und Kindern. Zum Beispiel treffe ich bei vielen meiner Lesungen auf Schüler unterschiedlichen Alters. Diese Begegnungen sind spannend, für beide Seiten. Ich folge den Einladungen zu diesen Lesungen in Schulen sehr gern, aber offen gestanden nicht nur, um der Jugend von heute ein wenig in die Köpfe zu schauen, sondern vor allem, damit die Schüler auf mich treffen. Es ist selten, dass Kinder mit dem Thema Behinderung in Berührung kommen, denn die meisten Kindergärten und
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