Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Die Kinder mussten sich erst an meinen Anblick gewöhnen und beäugten mich zunächst aus der Ferne. Irgendwann machte dann ein ganz Mutiger den Vorreiter und kam auf mich zu. Damit war das Eis gebrochen und alles ging ganz schnell. Wenn ich es recht bedenke, dann hat mich das Fremdeln der Kids sogar dazu ermutigt, ihnen gegenüber noch ein bisschen provokanter zu werden, auch mal rauszulassen, was alles in mir steckt. Es hat mich darin bestärkt, Sachen zu machen, die man mir nicht zutraute, wie Basketball oder Tischkicker spielen. Dass ich dann auch noch gewinne, daran hatte wohl keiner geglaubt. Dieses Wagen und Probieren war jedoch ein absoluter Durchbruch für mich und meine ganz persönliche Integration. Es war der Moment, in dem man im Stillen jubelt, weil man weiß, dass man einen der steilsten Berge seines Lebens erklommen hat.
Der Höhepunkt dieser Kinderfreizeit war damals ein gemeinsamer Ausflug in die Stadt. Weil es bergauf ging, war diese Aktion für mich ziemlich mühsam, was die Kids auch mitbekamen. Also haben sie mich mit vereinten Kräften ein Stück den Berg hoch geschoben und gezerrt. Obwohl es ein sehr unwegsames Gelände war und extrem steil. Mit einem Mal waren sie zur Stelle. Das ist es, was ich unter Inklusion verstehe: Die Kinder sind ein Stück ihres Lebenswegs mit jemandem mitgegangen, der eine Behinderung hat, und haben gelernt, davor keine Angst zu haben, sondern im Bedarfsfall ohne Zögern anzupacken.
Im Kindergarten meiner Tochter Emely gab es einmal ein behindertes Kind, weswegen sie eine »Integrationskraft« eingestellt haben. So etwas finde ich gut. Das hilft nicht nur den nicht-behinderten Kindern, sondern natürlich auch dem
Kind, das ein Handicap hat. Ich bin überzeugt, dass das Kind mit Behinderung durch die Gemeinschaft mit Kindern ohne Handicap sehr gut gefördert wird. Noch besser lief es in einer anderen integrativen Einrichtung, von der ich gehört habe. Dort war ein Rolli-Kind, um das sich die anderen Kids regelrecht geschwisterlich gekümmert haben. Ich glaube, davon profitieren beide Seiten. So können Kinder ihr Sozialverhalten enorm ausbilden. Für meine Tochter Emely ist es in dieser Hinsicht bestimmt auch ein großes Plus, mit mir zusammen zu leben. Sie ist jetzt viereinhalb Jahre alt. Es gibt inzwischen einige Dinge, die ich sie übernehmen lasse, wenn sie mir zu anstrengend werden. Ich erkläre ihr dann, dass es ganz schön wäre, wenn sie mir beim Tischdecken helfen würde, weil es mich allein zu sehr anstrengt. Das versteht sie. Für mich ist es ausschlaggebend, wie man einem Kind etwas vorlebt und wie man es einbezieht. Ich verlange die Mithilfe nicht jeden Tag von ihr, aber es gehört einfach zu unserem Zusammenleben dazu. Das gilt natürlich auch für Beziehungen zwischen Menschen ohne Behinderung. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig. Das ist gemeinschaftliches Leben – nicht nur im engen Familienkreis, sondern in der Welt.
Oft wird diskutiert, ob es wirklich sinnvoll ist, stark Lernbehinderte in eine Regelklasse zu integrieren. Ob dies die nichtbehinderten Kinder beim Lernen beeinträchtigen würde oder ob in »Sonderschulen« umgekehrt die Lernbehinderten ausgegrenzt werden. Ich bin kein Experte dafür. Grundsätzlich aber betrachte ich es mit Skepsis, wenn so genannte Randgruppen unter sich bleiben, wie dies beispielsweise in vielen Reha-Zentren passiert. Die Leute damals in meinem Reha-Zentrum waren dort so abgeschottet, dass sie meiner Meinung nach überhaupt keinen Realitätsbezug haben konnten.
Bei der Inklusion geht es ja im Wesentlichen darum, Vielfalt (also Diversität) wertzuschätzen und dieses Prinzip in Bildung und Erziehung zu integrieren. Der Begriff leitet sich ab vom lateinischen Verb includere: beinhalten, einschließen, einsperren. Die inklusive Pädagogik geht noch über den Begriff der reinen Inklusion hinaus. Sie benutzt Mottos wie »Es ist normal, verschieden zu sein«, »Vielfalt macht stark« oder »Jedes Kind ist besonders«. Diese Form der Pädagogik wird als Aufgabe für die gesamte Gesellschaft gesehen und fängt daher schon bei den Kindern an. Indem ich mich ihren Blicken und Fragen aussetze, lege ich die Grundsteine für ihren späteren Umgang mit Situationen, in denen es zu Berührungspunkten mit dem Thema Behinderung kommt.
Wenn Inklusion glückt, dann ist es egal, ob du keine Ohren oder Beine hast. Jeder bringt dann seine Stärken in die Gesellschaft mit ein, jeder ist wichtig und ein Teil des Ganzen. Es
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