Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
im Rollstuhl ist es eben ein bisschen schwieriger, durch den Wald zu stapfen, als auf zwei Beinen. Es sei denn, ich will in Kauf nehmen, dass ich an irgendeiner Wurzel hängen bleibe oder bei der intensiven Sichtung eines Steinpilzes weit nach vorne gebeugt mitsamt dem Rollstuhl den Waldboden küsse wie der Papst die heilige Erde.
Ich möchte auch nicht dauernd geschoben werden, wenn es nicht sein muss. Das habe ich ja schon mehrfach gesagt. Selbstständigkeit ist für mich einer meiner höchsten Werte und das Gefühl der ständigen Abhängigkeit macht mich regelrecht krank. Dann werde ich erst richtig behindert! Ich will mich allein fortbewegen und im ersten Schritt selbst meinen Mann stehen. Außerdem kann ich so richtig Ruhe und Frieden in der Natur nur dann finden, wenn ich allein bin, mit mir, mit der Stille, den Vögeln, den Geräuschen der Natur, den schönen Farben, der guten Luft und dem Geruch der Erde. Natur ist ein Gesamterlebnis.
Ich bin ein sportlicher Typ und wenn ich noch Beine hätte, dann würde ich sicher Felswände hochklettern und Berge besteigen. Oder mit dem Kajak Bergflüsse runterdonnern. Oder wäre schon einmal über die Alpen gewandert. Aber so sehr ich die Extreme liebe und meine Grenzen erkunden will, alles wäre-hätte-würde ergibt an dieser Stelle überhaupt keinen Sinn. Ich bin zufrieden mit mir, akzeptiere über weite Strecken, was ich nicht kann, und bin sehr dankbar für das, was noch möglich ist. Und das ist nicht wenig!
Aber ich würde viel dafür geben, mal in einem Seilgarten, der vielleicht mitten in den Bergen liegt oder in einem Wald zwischen den Baumwipfeln aufgebaut ist, zu klettern und dieses Gefühl zu erleben, in der Höhe zu schweben. Mich von Baumkrone zu Baumkrone über Seile und kleine Plateaus zu bewegen. Mitten zwischen den Ästen, neben einem Eichhörnchen zu hängen. Sich vom Wind in den Bäumen sanft schaukeln zu lassen. Bestimmt ein großartiges Gefühl ...
... müsste ich nicht unten warten. Von meinem Rollstuhl aus kann ich nur schön nach oben gucken und den anderen Mut zurufen, aber ich kann es nicht vormachen. Ich kann nicht mitgehen und ich kann da oben in der Baumkrone niemandem die Hand geben.
Oder vielleicht doch? Ha! Aber hallo! Kaum zu glauben: Vor einiger Zeit trudelte mir eine Mail in die Box mit einer Anfrage, ob ich nicht für den Verein Kubus e. V. einen neu errichteten Teil ihres Klettergartens einweihen wolle, einen barrierefreien! In den vorhandenen Seilgarten ist dort mit einfachen, aber effektiven Mitteln eine so genannte Rollstuhlbrücke integriert worden.
Da ließ ich mich natürlich nicht lange bitten: »Klar mache ich das!« Ich war begeistert. Der große Tag der Einweihung kam und ich fuhr mit meinem Rolli an den Rand des Kletterparks, wo ich bereits erwartet wurde. Gurtzeug und Helm an,
und dann ging es erst mal mit dem Aufzug kerzengrade hoch in die Luft. Den Schweiß, den ich in den wenigen Minuten da oben geschwitzt habe, kann ich im Geiste heute noch aus meinem Hemd wringen. Eigentlich waren es nur neun Meter, geschwitzt habe ich aber für fünfzig. Auf der Plattform habe ich dann erst einmal kurz durchgeatmet. Von wegen Natur genießen und so. Hätte ich noch Knie gehabt, dann hätten sie mir geschlottert wie Espenlaub.
Ein Super-Naturerlebnis: Ich spürte, wie die Bäume vom Wind berührt von rechts nach links schaukelten und dann auch noch im Kreis herum. Nichts für schwache Nerven! Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich nicht ganz schwindelfrei bin? Oh Mann, Sitzmann, in was hast du dich denn da reinmanövriert?, dachte ich in diesem Moment, in dem es schon kein Zurück mehr gab.
Meine nächste Aufgabe bestand darin, aus eigener Kraft auf einem achtzig Zentimeter breiten Holzsteg die zehn Meter von der Plattform zum nächsten Baum zu fahren. Gruselig! Aber gut, es half nichts, jetzt war ich nun mal oben. Eine besondere Motivation waren für mich auch die etwa 100 Augenpaare der Gäste am Boden, die jede meiner Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit verfolgten und die ganz klare Erwartung hatten, dass ich jetzt als erster Rollstuhlfahrer in der Geschichte dieses Hochseilgartens über diesen Steg fahren würde.
Es gab also wirklich kein Zurück mehr. Das Letzte, was ich auf dieser Welt getan hätte, wäre gewesen, mich wieder mit dem Fahrstuhl abseilen zu lassen. Ich, die Sportskanone! Der wilde Kerl! Eher wäre ich gestorben!
Es ging also los: Ich setzte vorsichtig meinen Rollstuhl in Bewegung und versuchte,
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