Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
ersten Stock, wenn weit und breit kein Aufzug wartet und alle, die einen hätten tragen können, selbst schon unter’m Sauerstoffzelt lagen? Ja, selbst ist der Sitzmann! Es musste einmal mehr die altbewährte Handarbeit sein, die mich und den Rest meines Körpers in Richtung Bett brachte. Also los; ran an die fünfundzwanzig Stufen des Grauens – die nach dieser Tagestour doppelt und dreifach in den Armen schmerzten. Aber das kuschelige Bett, ein kleines Paradies auf Erden, konnte mich entschädigen. Am nächsten Morgen nahmen wir die zweite Etappe in Angriff. Frisch gestärkt, aber nicht geduscht, denn in die Dusche kam ich leider nicht rein. Über leichte Geröllfelder ging es bergauf. Dazwischen gab es immer wieder ein Stück erlösenden Asphalt, auch wenn der etwa so steil war wie die Holmenkollen-Skischanze in Norwegen. Das erste Stück »zu Fuß« zurückzulegen war schon sehr mühsam.
Schließlich kam ein Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Zumindest nicht aus eigener Kraft. Mitten im Wald wurde es so steil und unwegsam, dass fremde Hilfe notwendig war. So, jetzt hat dich die Natur also doch bezwungen, denkst du dann in deinem Karren sitzend, den du selbst nur mit Hilfe von zwei Skistöcken mitantreiben kannst, während zwei weitere Personen dir dabei helfen, nicht umzukippen, und dich den Berg hochschieben und zerren. Ein blödes Gefühl, vor allem für jemanden wie mich, der sich ja nur selten helfen lässt, weil er geradezu selbstverständlich den Wunsch verspürt, alles aus eigener Kraft zu machen. Doch in diesem Moment half es nichts, es konnte nur in dieser Art weitergehn. Und das alles zwei Kilometer entlang einer Felswand mit Blick in die Tiefe. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich war, als das hinter uns lag.
Aber die Belohnung für die Anstrengung und den Stress war
gigantisch: Oben angekommen empfing uns ein Wahnsinns-Panorama mit einem Sonnenuntergang, der sich gewaschen hatte. Das Gefühl, als ich da oben stand, verschwitzt und erschöpft, werde ich wohl mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Ausgelaugt, aber glücklich – und mit einem weiteren Erlebnis in meiner Geschichtentruhe.
Die Natur hatte mir also all das abverlangt, um mir ihr schönstes Gesicht zum Abend zu zeigen. Das war völlig ok! Von diesem Gefühl zehre ich heute noch und es hat mich in den Jahren danach immer wieder ermutigt, neue Wege zu gehen und immer wieder Dinge auszuprobieren, die ich noch nicht kannte. Nur das hat mir letztlich viele schöne Erfahrungen möglich gemacht.
Noch viel anstrengender ist die Begegnung mit der Natur freilich im Winter. Draußen herrschen Minusgrade, bei denen einem die Finger an den Greifringen des Rollstuhls festfrieren. Handschuhe kann man kaum benutzen, weil man sonst keinen Grip mehr hat und der Rollstuhl dadurch nahezu unkontrollierbar wird. Da wird es auf den Straßen nicht nur für Autos anstrengend. Der einfachste Weg zum Supermarkt um die Ecke wird im Rolli zu einem Abenteuer, ohne die Gewissheit, ob man jemals dahin zurückkehrt, wo man herkommt. Ich muss im Winter immer schauen, dass ich bei meinen Ausflügen in die Natur Straßen habe, die von Eis befreit oder mit Salz gestreut sind. Und damit stecken wir schon mitten im nächsten Problem: Die Straße, in der ich wohne, wird immer erst sehr spät – oder gar nicht – vom Schnee geräumt. Das heißt für mich: Pause. Und wenn sie dann gestreut ist, ist es gut möglich, dass zu viele Splitter von der Steinstreuung auf der Straße sind. Das heißt, Rollstuhlfahren ist mit großem Knirschen und großen Mühen verbunden. Ist zuviel Salz im Streu, kann
das die Haut an den Händen sehr stark reizen. Schnell wird in einer solchen Zeit ein kleiner Auslauf schwierig für mich. Was sehr unangenehm werden kann, wenn zum Beispiel das Töchterchen Hunger hat, bei Papa aber der Kühlschrank leer ist. Was tun? In meinem Fall kann ich das Auto aus der Garage nehmen und in ein nahegelegenes Einkaufzentrum fahren. Tiefgarage bei Start und Ziel ist in solchen Fällen ganz praktisch. Da parkt man dann, ob Schnee oder Eis, immer schön im Trockenen und mit klaren Scheiben und kann seine Einkäufe unbeschwert besorgen und in den Wagen verladen.
So ein Einkaufszentrum ist ohnehin ein Rolliparadies. Man gleitet auf schön gebohnertem Boden dahin und hält nur an, wenn einem die Schaufenster einen atemberaubenden Anblick offenbaren. Im Sommer wohl temperiert und im Winter schön geheizt. Paradiesisch! Man kann sich ganz entspannt mehrere
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