Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
meinen Blick ganz starr geradeaus zu halten (Die Natur interessierte mich in dem Moment nicht mehr die Bohne!), was mir auch weitgehend gelang. Vor und
hinter mir liefen zwei Jungs, die mir das wunderbare Gefühl von Sicherheit vermitteln sollten, was nur halb gelang. Ich wusste, dass ich da allein durchmusste. Am Baum am anderen Ende des Steges angekommen, toste der Applaus vom Boden hinauf und das Blut in meinen Adern ebenso. Das war schon mal schön, aber erst die halbe Miete. Ich hatte nämlich auch eine Rückfahrkarte gelöst. Also das Gleiche noch einmal in die andere Richtung und dann nix wie abgeseilt. Mutter Natur, nein, Mutter Erde hatte mich erneut aufgenommen und ich war heilfroh, als ich wieder unten war.
Es geht also doch – mit dem Rollstuhl durch den Hochseilgarten. Auch wenn es ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt habe. Aber ich würde es, glaube ich, noch einmal machen. Das Gefühl, mich überwunden und es geschafft zu haben, war den Schweiß allemal wert, den ich dabei geschwitzt habe. Und ein bisschen Nervenkitzel tut manchmal einfach auch gut.
Am meisten gefreut hat mich aber eigentlich nicht die Aktion an sich, sondern die Tatsache, dass hier jemand mitgedacht hat. Für Menschen wie mich. Denn für uns ist es gerade in freier Wildbahn kaum möglich, uns zu bewegen. Zum Beispiel gibt es ja auf entlegenen Hügeln oft wunderbare Burgen, Schlösser und versteckten Ruinen. Toll, wenn man die ohne Hilfe erwandern kann, um in den alten Mauern dem Leben vor unserer Zeit nachzuspüren. Aber leider ist mir der Besuch von Burgen und Schlössern, die weit abgelegen oder an Klippen liegen, meist ganz verbaut. Oder sie sind nur mit viel Mühe und vollem Einsatz zu erreichen. Also laden Sie mich bitte nicht zu Ihrer Hochzeit ein, wenn Sie vorhaben, auf einer Burg zu feiern. Ich weiß schlicht und ergreifend nicht, wie ich da hinkommen soll. Es sei denn, ich kann mit dem Auto bis in den Burghof fahren, so wie in Heidelberg. Hier könnte ich mich sogar auch von der alten Zahnradbahn nach oben bringen lassen. Oder doch nicht? Passt der Rollstuhl da überhaupt rein?
Natur bedeutet also oft entweder Vorabplanung oder Anstrengung für mich. Ich muss mich auf die Natur zubewegen und vorher sondieren, ob die Wege so beschaffen sind, dass ich mich auf ihnen bewegen kann. Die verschiedenen Alpenvereine geben mir in dieser Hinsicht gute Informationen. Aber es ist auch hier so, dass ich meine Aktionen immer erst einmal vorbereiten muss. Das kann lästig sein, wenn es einem nicht gelingt, die eigenen Lebensbedingungen zu akzeptieren. Zum
Glück habe ich damit jedoch keine Schwierigkeiten. Es ist, wie es ist. Alles eine Frage der Organisation und Einstellung.
2001 habe ich zusammen mit der Kultur- und Sportgruppe Rhein-Neckar die erste Deutsche Rollstuhl-Trekkingtour organisiert und natürlich auch selbst daran teilgenommen. Es ging ins Allgäu. So richtig pioniermäßig. Tief hinein in ein Gelände, das für Rollstuhlfahrer nur schwer oder gar nicht erschlossen ist.
Alles fing mit einem Zeltlager unterhalb von Schloss Neuschwanstein an. Der Aufbau des Camps war für geübte Camper, die wir fast alle waren, kein Problem. Wir bauten unsere Zelte auf einem Wildrasenstück auf, das von Bäumen umgeben war. So weit, so gut.
Am zweiten Tag kam dann der Regen und machte aus dem idyllischen Plätzchen eine Schlamm-Matsch-Arena. Wir hatten also mit unserer Aktion in der schönen, aber rauen Natur noch nicht einmal richtig gestartet und erlebten schon die ersten Barrieren direkt vor der Nase. Aber Probleme sind bekanntlich dazu da, um gelöst zu werden. Gesagt – getan: Wir legten einfach ein paar Bretter aus, über die wir durch den Schlamm rollen konnten. Wo die auf einmal herkamen, weiß ich bis heute nicht, aber das war auch egal. An den folgenden Tagen fanden dann diverse Handbike-Touren statt, u.a. ein Ausflug zu einem nahegelegenen Flugfeld, wo wir uns, angekettet an einen Zweimanndrachen, in die Luft ziehen ließen. Nach der Schlammerfahrung mit ihren Bewegungseinschränkungen war dieses freie Fliegen gleich noch viel schöner und auch nicht so nass.
Am stärksten ist mir aber eine andere Tour in Erinnerung geblieben. Diese führte in zwei Etappen auf den Gipfel eines gewaltigen nahegelegenen Berges. Die erste Strecke schafften wir noch mit dem Rad. Ziel war eine Berghütte in schwindelnder
Höhe, in der wir in der Nacht vor der klirrenden Kälte sicher waren. Aber wie kommt man hoch ins Matratzenlager im
Weitere Kostenlose Bücher